Oberursel. Am letzten Donnerstag besichtigten sechs ausgewiesene Expertinnen der ukrainischen Wohltätigkeitsverbands „Djerela“ die Oberurseler Werkstätten und das IB-Wohnheim mit Tagesstätte in Bommersheim.
Auf Einladung der gemeinnützigen Organisation Internationaler Bund (IB) Südwest waren sie zu einem Arbeitsbesuch nach Deutschland gekommen, um vom 29. März bis 4. April verschiedene IB-Einrichtungen und Angebote zur Eingliederung behinderter Menschen im Rhein-Main-Gebiet zu besuchen und sich mit deutschen Kollegen fachlich auszutauschen.
Die enge Kooperation des IB Südwest mit der landesweiten ukrainischen Organisation von Eltern behinderter Kinder und Angehöriger besteht seit inzwischen 25 Jahren.
Bis dieser neue Arbeitsbesuch, der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde, zu Stande kommen konnte, hatte es jedoch viele Jahre gedauert – zuerst auf Grund der Coronapandemie und dann wegen des seit drei Jahren andauernden Ukrainekrieges, berichtet Christiane Lensch. Die IB-Projektkoordinatorin ist die treibende Kraft hinter der langjährigen Kooperation mit der ukrainischen Partnerorganisation „Djerela“ – dem Wohltätigkeitsverband von Eltern überwiegend geistig behinderter Kinder, der derzeit 180 Personen betreut, von denen die meisten noch in Kiew leben. Einige Klienten wurden jedoch aus der Hauptstadt sowohl in die Westukraine wie auch ins Ausland evakuiert.
Führende Expertinnen des Landes
Die sechsköpfige ukrainische Delegation bestand aus ausgewiesenen Expertinnen, darunter die „Djerela“-Vorstandsvorsitzende, die geschäftsführende Direktorin der Gesamtukrainischen NGO „Koalition“ für Menschen mit geistigen Behinderungen, eine außerordentliche Professorin der Universität in Kyjiw (Kiew), die an der Fakultät für Sonder- und Integrationspädagogik lehrt, eine Dozentin am Lehrstuhl für Psychokorrekturpädagogik und Rehabilitation der gleichen Universitätsfakultät sowie zwei Sonderpädagoginnen und „Djerela“-Mitarbeiterinnen.
Nach verschiedenen Stationen in Hanau und im Main-Kinzig-Kreis sowie in Friedberg und Neu-Anspach standen am letzten Tag des Arbeitsbesuchs der Gäste aus der Hauptstadt Kiew die 1971 gegründeten Oberurseler Werkstätten auf dem Programm – gefolgt von einer abschließenden Stippvisite des IB-Wohnheims mit Tagesstätte in Bommersheim.
Raffael Soyka, der Fachbereichsleiter berufliche Rehabilitation des IB-Dienstleistungszentrums sowie der Schreinerei, begrüßte die kleine Expertendelegation im Bistro im Zimmersmühlenweg 67, das auch von den Oberurseler Werkstätten betrieben wird. Nach einer intensiven Frage- und Antwortrunde über die Arbeit und das Angebot der Werkstätten führte der Gastgeber die ukrainischen Besucherinnen durch die angrenzenden Betriebsräume dieses Standorts, in denen kleine elektronische Komponenten montiert und Artikel für einen Pharmahersteller konfektioniert werden.
Zu den Oberurseler Werkstätten gehören neben den verschiedenen Standorten im Gewerbegebiet Süd auch zwei Außenstellen – der Laden „Schawellsche“ im Hessenpark in Neu Anspach sowie eine Werkstatt in Usingen, in der Elektrogeräte recycelt werden. Alle diese Einrichtungen bilden einen „geschützten Arbeitsmarkt mit sozialpädagogischer Betreuung“, der rund 600 Menschen verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Die meisten von ihnen haben eine psychische Beeinträchtigung beziehungsweise Erkrankung, erläutert Soyka, zu dessen Aufgaben auch die Konflikt- und Krisenintervention gehört, die Teil der Betreuung ist. Der studierte Sozialpädagoge ist zusammen mit fünf Kollegen nach eigenen Angaben für etwa 100 Klienten zuständig.
Die ukrainische Expertendelegation machte anschließend Station in der nicht weit entfernten Schreinerei der Werkstätten in einer Seitenstraße des Zimmersmühlenwegs, für die Fachbereichsleiter Soyka ebenfalls zuständig ist. Bei dieser seit zehn Jahren existierenden Betriebsstätte handelt es sich nach seinen Worten um eine professionelle Schreinerei, die Auftragsarbeiten für regionale Kunden vor allem aus der Industrie übernimmt, aber auch eigene Produkte für Privatkunden herstellt, die in den beiden eigenen Läden der Werkstätten am Oberurseler Hauptstandort und im ‚Schawellsche‘ im Hessenpark verkauft werden. Gerade am Besuchstag der Delegation wurde der Werkstattshop mit angeschlossener Holzmanufaktur und Handwerkstatt in der Oberurseler Straße 81 wiedereröffnet (siehe dazu den zusätzlichen Bericht auf Seite XX) Er war die dritte und letzte Station, die die ukrainischen Expertinnen vor der Mittagspause besuchten, um sich einen Eindruck von den Arbeitsplätzen vor Ort und von dem Produktsortiment zu verschaffen, das hier angeboten wird.
Wichtiger Arbeitgeber im Landkreis
Die Oberurseler Werkstätten haben sich zu einem wichtigen Arbeitgeber im Hochtaunus-kreis entwickelt, der inzwischen mehr als 600 überwiegend behinderte Menschen eine Beschäftigungsmöglichkeit im so genannten zweiten Arbeitsmarkt bietet. Geeignete Mitarbeiter vermittelt die Einrichtung vereinzelt auch in den ersten Arbeitsmarkt.
Insgesamt ist die Einrichtung an sieben Standorten vertreten Neben der großen Hauptwerkstatt gibt es noch sechs kleinere Standorte, an denen jeweils etwa 30 bis 50 Klienten arbeiten. Dazu gehören auch zwei so genannte Außenarbeitsgruppen an der Deponie Usingen (Elektro-Recyling) und im Laden im Hessenpark. Den Schwerpunkt bildet natürlich Oberursel, wo es neben dem genannten Bistro, der Konfektionierung und der Schreinerei sowie dem Laden noch ein Versandzentrum mit Online-Shop und die Bereiche Aktenvernichtung, Montageservice sowie Digitalisierung und Büroservice gibt.
„Wir wachsen immer mehr“ sagt Raffael Soyka stolz. Jährlich kämen etwa 20 bis 30 neue Klienten dazu, die er jedoch lieber als Mitarbeiter bezeichnet.
In Deutschland arbeiten nach seinen Angaben insgesamt rund 350.000 Menschen in etwa 400 Behindertenwerkstätten. Nur zwei davon seien in der Trägerschaft eines Landkreises. Eine von den beiden sind die Oberurseler Werkstätten als Eigenbetrieb des Hochtaunus-kreises.
Gegenüber der ukrainischen Delegation ging der Fachbereichsleiter auch noch kurz auf den geschichtlichen Kontext ein und erklärte, dass es solche Einrichtungen überhaupt erst seit den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland gibt, denn in der Nazi-Zeit seien ja die meisten Behinderten ja systematisch verfolgt und ermordet worden.
(Siehe auch den nebenstehenden Berich über die 25-jährige Kooperation des IB Südwest mit der Elternorganisation „Djerela“.)
Fachbereichsleiter Raffael Soyka im Gespräch mit den ukrainischen Expertinnen bei der Besichtigung der Werkstatträume am Standort Zimmersmühlenweg 67. Foto: dsp