„Sobald die Straßenlaternen angehen, kommt ihr heim!“

Die Kinder aus der Moselstraße (v. l.): Ruth Erben, Waltraud Westenburger, Monika Wehrheim, Christel Stöcker, Klaus Burschil, Brigitte Geißler-Burschil und Bernd Hora. Foto: bg

Oberursel (ow). Schon vor gut 70 Jahren war die Moselstraße eine „Spielstraße“. Diese Bezeichnung existierte damals noch nicht, aber die vielen Kinder tobten sich überall aus. Sie hatten keine eigenen Kinderzimmer, vollgestopft mit materiellen Dingen, aber dafür gehörte ihnen der öffentliche Raum, die Straße, in der sie aufwuchsen, das gesamte Revier rund um die Häuser. Sie gingen auf Entdeckungsjagd und eroberten neue Gebiete zum Spielen, Bauen, Verstecken und im Winter zum Rodeln. Täglich machten sie sich ganz allein auf den Weg zur Schule, wurden zum Einkaufen in die Läden um die Ecke geschickt, und davon gab es rund um die Moselstraße eine ganz Menge. Sie deckten den täglichen Bedarf ab.

Die Moselstraße verläuft parallel zur Hohemarkstraße auf Höhe der U-Bahnhaltestelle „Lahnstraße“. Die Häuser sind von großen Grünflächen umgeben, die Lage ist top. U-Bahn, Bus-Haltestelle, Autobahn und ein Supermarkt sind nur einen Katzensprung entfernt. Die Innenstadt ist fußläufig erreichbar, ebenso das Schwimmbad, dazu Naherholungsgebiete wie das Bachpfädchen oder der Maasgrund. Die zwölf Häuser sind 1950 von der OWG als erstes Neubauprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg errichten worden. Damals war die U3 noch die Straßenbahn, die Tram Linie 24, die Lahnstraße ein Feldweg Richtung Oberstedten, Bus, Autobahn und Supermarkt gab es nicht. Aber dafür einen „Tante-Emma-Laden“, einen Milchladen und eine Metzgerei ganz in der Nähe. Bier, Zigaretten und Süßigkeiten wurden kiosk-ähnlich in einer Wohnung in der Moselstraße verkauft.

Beim Monatstreffen des Frauenrings berichtet Brigitte Geißler-Burschil in einem sehr lebendigen Vortrag über ihre Erinnerungen, als die Moselstraße ihr Spielplatz war. Immer wenn sie vor die Haustür trat, traf sie dort viele Kinder, mit denen sie etwas unternehmen konnte. Sie lebte mit zwei Geschwistern und ihren Eltern in einer 48-Quadratmeter großen – besser kleinen – Wohnung. „Zu fünft? Das geht doch gar nicht, so die einhellige Meinung heute. Oh doch, es ging. Davon war in ihrem Vortrag die Rede.

Es war eine Zeitreise in die analoge Welt, die so ganz anders organisiert war ohne Internet, Computer, Smartphone, iPod, oder EC-Karte. Damals wurde alles bar bezahlt. Die meisten Haushalte kamen ohne Telefon, Auto, Waschmaschine oder Kühlschrank aus, nur wenige hatten bereits einen Fernseher. Geißler-Burschil erzählte von einem Leben, das Kindern einige häusliche Pflichten auferlegte, aber auch unglaubliche Freiheiten einräumte. „Wenn wir zum Spielen raus gingen, wollten unsere Eltern selten wissen, was wir vorhatten. Es galt nur die eiserne Regel: „Sobald die Straßenlaternen angehen, kommt ihr heim“, erzählte sie. Sie warf dazu einen Blick auf die schwierige Nachkriegszeit. In Oberursel war am 30. März 1945 der Krieg zu Ende, als amerikanische Panzereinheiten die Stadt einnahmen. Die Besatzungsmacht beschlagnahmte mehr als 1400 Wohnungen, dazu die Motorenfabrik, das Gelände des ehemaligen Reichssiedlungslehrhofs, damals DULAG, dann Camp King, die Villa Gans, das ehemalige Lehrerinnenheim in der Hohemarkstraße, heute Agnes-Geering-Heim, und das Schwimmbad. Erst 1953 wurde es wieder für die Bevölkerung freigegeben.

Die Wohnungsnot war in der Nachkriegszeit beherrschendes Thema. Millionen waren Ausgebombt, hatten als Flüchtlinge und Vertriebene ihre Heimat verloren, und nach und nach kehrten die Kriegsgefangenen zurück. Zwischen 1945 und 1949 kamen etwa 16 000 Flüchtlinge und Vertriebene in den heutigen Hochtaunuskreis, 1948 wurden in Oberursel 1547 Flüchtlinge gezählt. Sie wurden zunächst in rasch zusammengezimmerten Barackensiedlungen untergebracht, einige davon waren bereits während des „Dritten Reichs“ für Fremdarbeiter errichten worden. Diese sogenannten „Behelfsheime“ gab es rund um den Schillerturm, in der Straße am Portugall, im Steinmühlenweg und gegenüber der Motorenfabrik. Doch die Menschen waren froh, den Krieg überlebt zu haben, und krempelten die Ärmel hoch.

Am Wirtschaftsaufschwung hatten auch die Flüchtlingen einen großen Anteil. Sie brachten Know-How mit und gründeten Firmen. In Oberursel waren die Flüchtlingsbetriebe vor allem in der Textil- und Glasindustrie von Bedeutung. Für ihre Mitarbeiter, darunter Glasbläser, die aus dem Sudetenland oder aus der Nähe von Ilmenau stammten – wie der Vater von Brigitte Geißler-Burschil – suchten sie händeringend nach Wohnungen. Sie unterstützten die OWG bei ihrem Bauvorhaben „Moselstraße“ mit einem Baukostenzuschuss und erhielten damit Belegungsrechte für ihre Betriebsangehörigen. Die Wohnungen wurden zu 60 Prozent an Vertriebene und Flüchtlinge vergeben. Das Quartier rund um die Moselstraße war nicht nur von vielen Kindern bevölkerte, die sich später für das Gemeinwohl ihrer Heimatstadt einsetzten, wie der Lokalhistoriker Helmut Hujer oder Reinhard Dunger, viele Jahre Vorsitzender der Windrose. Auch der spätere Bürgermeister Karl-Heinz Pfaff bezog als frisch verheirateter junger Verwaltungsangestellter eine Ein-Raum-Wohnung mit Küche und Bad. Künstler waren dort für einige Jahre zu Hause, etwa der Textildesigner und Fotograf Edgar Kasemeier oder der Maler Werner Naunapper. Heute ist es eine beliebte Adresse für Studenten und Single-Haushalte, berichtete Geißler-Burschil zum Schluß.

Zu dem Vortrag in der Stadthalle waren einige ihrer ehemaligen Spielkameraden gekommen. Sie nutzen die Gelegenheit zum fröhlichen Austausch und machten ein Erinnerungsfoto.



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