„Bis zu jenem Tag, als mein Haus abbrannte“

Gregor Maier (l.), Vorsitzender des Vereins für Geschichte und Landeskunde Bad Homburg, hat Chasan Daniel Kempin (r.), Kantor der jüdischen Gemeinde Frankfurt, zum literarischen Gedenkabend über Agnon eingeladen – jiddische Musik, Literatur und Feuerwehrkunde sowie

zahlreiche Fotos und Informationen schaffen ein umfassendes Bild von der Brandnacht 1924, in der Samuel Joseph Agnon in Bad Homburg alles verlor. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Beim diesjährigen Israeltag in Frankfurt am 14. Mai verteilte der teilnehmende Israel-Gründungsfonds Keren Hayesod eine Karte mit dem „Gebet für Israel“: Der berühmte Schriftsteller und Nobelpreisträger Samuel Joseph Agnon hatte es im Jahr 1948, dem Jahr der Staatsgründung Israels, verfasst. Agnon erfleht darin den Schutz des Landes, Frieden für alle seine Bewohner und „ein Leben, in welchem all unsere Herzenswünsche zum Guten erfüllt werden“.

Einen Tag, nachdem in Frankfurt lebende Juden auf der Hauptwache unter massivem Polizeischutz Bürger zu Musik, Reden und Gesprächen eingeladen hatten, fand in der Bad Homburger Stadtbibliothek ein literarischer Gedenkabend für den 1887 in der Ukraine geborenen Samuel Joseph Agnon statt. Eine bemerkenswerte Koinzidenz. Der Verein für Geschichte und Landeskunde Bad Homburg hatte eingeladen, der Saal der Stadtbibliothek war voll besetzt. Was der Vorsitzende des Vereins, Gregor Maier, klug und facettenreich geplant hatte, war ein Abend des Nachdenkens über leiblich und geistig erfahrenen Verlust, über Zufall und äußere Umstände, die Frage von Schuld und Schuldzuweisung, über die Brüchigkeit von Urteil und Einsicht, über Ereignis und Trauma.

Vor 100 Jahren, im Frühsommer 1924, war in der „Villa Impériale“ an der kurstädtischen Kaiser-Friedrich-Promenade 82, in der Samuel Joseph Agnon von 1921 bis 1924 mit seiner Familie lebte, ein Großfeuer ausgebrochen. Die Nacht vom 4. auf den 5. Juni damals wurde für den jüdischen Autor zu einem Tod mitten im Leben: Der 34-Jährige verlor seine gesamte Bibliothek und zahlreiche noch nicht veröffentlichte Manuskripte sowie seinen gesamten Besitz durch den Großbrand. Agnon war zu dieser Zeit einer der führenden literarisch-philosophischen Köpfe Europas, der Weggefährten wie Martin Buber und Chaim Nachman Bialik, Religionswissenschaftler, Schriftsteller und Künstler der Emigrationsbewegung jüdischer Menschen aus Osteuropa, hier traf. „Bad Homburg war ein Zentrum der Renaissance hebräischer Kultur und Sprache, der literarische Salon von Shoshana Persitz an der Kaiser-Friedrich-Promenade 16 Treffpunkt für bedeutende Intellektuelle“, erläuterte Bad Homburgs Stadtarchivarin Dr. Astrid Krüger in einer historischen Einführung. Von den „glücklichsten und produktivsten Jahren seines Lebens“ – so sein Freund Gershom Sholem –, den drei Jahren in Bad Homburg, sind Fotos und Schilderungen über Agnon erhalten.

Das Foto vom 6. Juni 1924, auf dem die Feuerwehr bei Nachlösch-Arbeiten an der zerstörten „Villa Impériale“ zu sehen ist, lässt ahnen, dass der zweifache Familienvater Samuel Joseph Agnon mit seiner Frau Esther fassungslos vor den Trümmern seiner Existenz stand. Drei Monate nach dem Großbrand zog Agnon nach Palästina und wohnte fortan mit Frau und Kindern in Jerusalem. Doch noch Ende Juni 1924 strengte das Ehepaar Agnon eine später abgewiesene Klage auf Schadenersatz gegen die Stadt Bad Homburg an. Denn die Gerüchteküche über die Brandnacht kochte in der Kurstadt und nährte schon am 5. Juni den Verdacht, die Feuerwehr habe bei den Löscharbeiten dilettantisch versagt. „Die Bevölkerung kritisierte die Feuerwehr: Man habe die Schlüssel zum Öffnen der Hydranten vergessen, und dann platzten auch noch Schläuche“, zitierte die Stadtarchivarin aus der damaligen Tagespresse. Unwillige, schlecht ausgebildete Feuerwehrleute? „Die Behälter des Löschgeräts voll mit Branntwein und Bier“ statt Wasser, wie gar behauptet wurde? Da die Akten zu dem Rechtsfall im Hessischen Landesarchiv Wiesbaden, die unter dem Agnon’schen Familiennamen „Czaczkes“ liefen, irgendwann in Unkenntnis dieses Zusammenhangs entsorgt wurden, versuchte an diesem Abend der Bad Homburger Stadtbranddirektor Daniel Guischard, angetan mit einer Originaluniform der Homburger Stadtwehr der 1920er-Jahre, die damaligen Ereignisse und den Feuerwehreinsatz zu kommentieren. „Wenn ich nach hundert Jahren im Rückblick diesen Einsatz beleuchte, wiegt angesichts der seit 1938 in Bad Homburg stattgefundenen Pogrome gegen jüdische Bürger die historische Hypothek sehr schwer“, so Guischard.

Er zeigte das Foto der Brandruine der Villa Impériale, wo Feuerwehrleute mit einer hölzernen Schiebeleiter standen und „nicht wirklich an das Gebäude herankamen.“ Der Anmarschweg für den Löschzug sei viel zu lang gewesen; für die Schläuche, damals noch aus Hanf gefertigt, habe es keine Druckprüfung gegeben, und der Wasserdruck sei zu schwach gewesen. Auch habe völlige Dunkelheit in der Brandnacht geherrscht, da die Laternen wegen Einsparung abgedreht gewesen seien und das Auffinden der Hydranten im Boden fast unmöglich war.

Der Stadtbranddirektor nahm die Zuhörer anhand von Fotos und spannenden Beschreibungen mit in die Entwicklungsgeschichte der Feuerwehr-Techniken vom Mittelalter bis in die 1950er-Jahre. Schon vor der Brandnacht 1924 hatten Ausrüstung und Techniken der Homburger Wehr in der Kritik gestanden. „Wenn alles optimal gelaufen wäre, wäre das Schadensausmaß vielleicht nicht so groß gewesen.“

In seiner Erzählung „Ein ganzer Brotlaib“ hat Samuel Joseph Agnon nach 1924 in Israel versucht, dieses traumatische Ereignis der Vernichtung all seines geistigen Eigentums literarisch zu verarbeiten. Volksbühne-Schauspieler Rainer Maria Ehrhardt las die ganze Erzählung. Die Intensität, mit der Agnon hier, zwischen unterschiedlichen Ebenen des realen und erinnernden Erlebens springend, von Pflichterfüllung und Verstand zu Gefühl und Affekt wechselt – diese Intensität ist brennend, quälend. Da sucht einer nach Recht und Gerechtigkeit wie nach Brot, seziert das tägliche Leben, und die Suche nach Normalität scheitert. „Bis zu jenem Tag, als mein Haus abbrannte“: ein Trauma, sein Trauma, das den Schriftsteller irreparabel beschädigte. Leben kann auch surreal werden und absurd, wenn der beschädigte Mensch immer wieder alles durchdenken will, um zu begreifen und sein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Chasan Daniel Kempin, Kantor der jüdischen Gemeinde Frankfurt, sang zur Thematik passende Lieder zur Gitarre, unter anderem „Ein Li Eretz Acheret – Ich habe kein anderes Land“: „Auch wenn der Boden unter mir brennt, im Körper Schmerz, im Herzen Hunger“, heißt es da. Samuel Joseph Agnon erlebte nicht nur einmal Katastrophe und Verlust; 1927 und 1929 verlor er durch Erdbeben und arabische Aufstände in Jerusalem wieder Haus und Bücher; der Holocaust folgte.

Jeder Mensch wünscht sich „ein Leben, in welchem all unsere Herzenswünsche zum Guten erfüllt werden“: Der literarische Abend zum Gedenken an Samuel Joseph Agnon in der Stadtbibliothek legte ans Herz: Wir können versuchen, Recht, Schaden und Leid so objektiv wie möglich zu bewerten – doch wieviel wichtiger ist es, die Herzenswünsche unseres Gegenübers wahrzunehmen und unser Tun und Lassen dem irgendwie wenigstens anzunähern. Auch und gerade in der heutigen Situation in Agnons späterer Wahlheimat.

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