Mit der „genialen Freundin“ ins Neapel der 60er-Jahre

Nach der mit italienischen Chansons umrahmten Lesung sind Sängerin Etta Scollo (vorne) und Schauspielerin Eva Mattes gerne bereit, ihren zahlreichen Fans Autogramme zu geben. Foto: jas

Bad Homburg (jas). Draußen dunkel und novemberkalt, drinnen die Atmosphäre Neapels, mal italienisch-temperamentvoll, dann plötzlich melancholisch und schwermütig. Mit auf die Reise in ein ärmliches Viertel der süditalienischen Großstadt nehmen am Sonntagnachmittag zwei ganz besondere Frauen ihr Publikum. An den Mikros im Festsaal des Steigenberger Hotels sitzt auf der rechten Seite die von Kritikern immer wieder als „Stimme Siziliens“ betitelte Sängerin und Gitarristin Etta Scollo. Zu ihrer Linken hat eine Schauspielerin Platz genommen, die nicht nur in zahlreichen Kino- und Fernsehfilmen zu sehen war, sondern auch als Tatortkommissarin Klara Blum in Konstanz am Bodensee ermittelt – Eva Mattes.
Die eine in grünem Kleid, die andere in Schwarz-Weiß mit Haarband, beide bestens gelaunt, mit Lust, den Gästen des Bad Homburger Poesie- und Literaturfestivals einen schönen Nachmittag zu gestalten. Die haben nach einem Gläschen Prosecco erwartungsvoll im Saal Platz genommen, bereit, die Geschichte von den beiden ungleichen Mädchen Raffaella Cerullo, genannt Lila, und Elena Greco zu hören. Lila und Elena sind die Hauptpersonen des Romanzyklus’ von Elena Ferrante, dessen erster Band in Deutschland 2016 unter dem Titel „Meine geniale Freundin“ erschienen ist und sich eine Woche lang auf dem ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste gehalten hat.
Nur wenige Worte richtet Eva Mattes vorweg ans Publikum, dann wirft sie zusammen mit ihren Zuhörern einen Blick zurück auf den Anfang der Freundschaft dieser beiden jungen Mädchen, die beste Freundinnen sind und es auch ein ganzes Leben lang bleiben werden. Über sechs Jahrzehnte hinweg, bis Lila plötzlich spurlos verschwindet und Elena versucht, hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.
Eva Mattes liest mit warmer, sicherer Stimme  von den Erlebnissen der beiden blitzgescheiten Mädchen in der Grundschule, die sehr früh wissen, was sie wollen: Sie träumen von Reichtum und davon, das Geld mit dem Schrei
ben von Büchern zu verdienen. Die draufgängerische Schusterstochter Lila setzt diesen Plan schon bald in die Tat um, schreibt den Roman „Die blaue Fee“, der die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, ihr ganzes Leben lang begleiten wird.
Die Wege der beiden Freundinnen trennen sich nach der Schulzeit. Elena geht fort, studiert und wird Schriftstellerin. Lila bleibt in Neapel, arbeitet in einer Fabrik für Fleischverarbeitung, wohin Eva Mattes’ Stimme die Zuhörer mitnimmt. Entsetzt muss Elena dort, in dieser unwirtlichen Umgebung mitansehen, wie ihre so begabte, kluge Freundin ihren ersten Roman „Die blaue Fee“ ins Feuer wirft und die mit kindlicher Handschrift beschriebenen Seiten ein Raub der Flammen werden.
Über Ausschnitte aus dem dritten Band der Tetralogie „Die Geschichte der getrennten Wege“ gelangt das Publikum schließlich an das Ende der Erzählung, hin zu Band vier, der den Titel „Die Geschichte des verlorenen Kindes trägt“. Elena ist mittlerweile 58 Jahre alt, Großmutter und Mutter dreier Töchter. Sie zweifelt an sich und ihren Werken, erträgt den Spott ihrer Kinder und sagt: „Die Welt hat sich verändert, sie gehört immer mehr ihnen und weniger mir.“
 
Italienische Chansons
 
Bis zum Ende versteht es Eva Mattes, ihre Zuhörer mitzunehmen auf den langen Weg der Freundschaft zwischen Elena und Lila. Und nicht nur das: Gemeinsam mit ihrer „genialen Freundin“ Etta Scollo zaubert sie mit italienischen Chansons auch die richtige Atmosphäre für die neapolitanische Saga. Da erklingen fröhliche Lieder, Liebeslieder und klagende Melodien, dann ist der Gesang von Waschfrauen zu hören. Etta Scollos klare Stimme verzaubert und schafft tiefe und hohe Töne mit Leichtigkeit. Die Klänge der Gitarre und manchmal auch nur das Klingen eines gefüllten Wasserglases begleiten den Gesang. Eva Mattes, die in zahlreichen Chansons die zweite Stimme singt, fasziniert ebenfalls.
Immer wieder gibt es für das italienische Duo begeisterten Applaus. Mit einem alten neapolitanischen Volkslied und einem fröhlichen Hochzeitslied aus den 60er-Jahren verabschieden sich die beiden Frauen, die den literarischen Novembernachmittag nicht hätten harmonischer gestalten können.



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