Und was passiert, wenn das System Putin ins Wanken gerät?

Den Blick auf Russland gerichtet (v. l.): Reinhard Veser, Margit Schlesinger-Stoll, Birgit Röher und Sebastian Scherer von der Volkshochschule Hochtaunus. Foto: bg

Oberursel (bg). Der Verein zur Förderung der Oberurseler Städtepartnerschaften (VFOS) ist im Jubiläumsjahr und hat sich viel vorgenommen. Im Hieronymi-Saal des Rathauses startete jetzt die Gesprächsreihe „Hallo Nachbar“.Vorstandsmitglied Birgit Röher fsste die anstehenden Jubiläen zusammen: Die Partnerschaft mit Epinay sur Seine besteht seit 60 Jahren, mit Rushmoor seit 35 Jahren und mit Lomonossow seit 20 Jahren. Seit dem Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine vor zwei Jahren ruht diese Verbindung. „Wir wollen sie aber nicht verschweigen, sondern mit dem heutigen Abend in eine faire Debattenkultur eintreten“, erklärte Röher. Die Auftaktveranstaltung hatte die Lage in Russland vor der Präsidentenwahl zum Thema. Referent war der Osteuropa-Experte und Redakteur der FAZ, Reinhard Veser. Die Moderation lag in den Händen von Margit Schlesinger-Stoll.

Was ist eigentlich in Russland los, wie kann es sein, dass der Krieg, der so nicht genannt wird, von einem Großteil der Bevölkerung – das sind 144 Millionen Menschen – hingenommen oder toleriert wird? Gerade wurde der Regimekritiker Nawalny beerdigt, der unter mysteriösen Umstanden in einem Straflager gestorben ist. Gibt es Menschen, die es noch wagen, sich offen gegen Putin und sein Regime zu äußern? Diese Fragen beschäftigen viele Menschen, das Thema stieß auf großes Interesse, der Saal war rappelvoll.

Mitte März finden in Russland Wahlen statt. Danach wird Putin seine fünfte Amtszeit antreten. Wahlen mit fairen Voraussetzungen sind nicht in Sicht, es sei die Imitation einer Wahl, stellte Veser klar. Aber warum ist die Machtelite im Kreml deswegen so nervös, und welche Funktion haben diese Wahlen? Sie müssen das richtige Ergebnis bringen. Das muss vor allem glaubwürdig sein. Dazu gehört, dass die Wahlbeteiligung hoch ist und die Kandidaten mit überzeugender Mehrheit ihm Amt bestätigt, also legitimiert werden, so der Referent. Er war einige Mal in dem großen Reich, anlässlich der Fussball-WM und auch zur Winter-OIympiade in Sotschi. Russland, so stellte er fest, ist kein Ort für Demokratie, Putin entscheidet über alles und ist der oberste Schiedsrichter. In Russland existieren viele Seilschaften und Interessengruppen „drum herum“, die gegeneinander mit harten Bandagen kämpfen. Oberster Schiedsrichter dabei ist Putin, der eingreift, wenn das System instabil werden könnte.

Veser erläuterte das am Beispiel des Oligarchen Prigoschin, Anführer der Söldnergruppe Wagner. Für seine Privatarmee hat er Milliarden vom Staat erhalten. Seine Söldner, die für ihre Brutalität berüchtigt sind, haben geopolitische Interessen für den Kreml durchgesetzt, ohne dass Russland offiziell beteiligt war. Der Mangel an Transparenz gehört zum System, das von ungeschriebenen Regeln bestimmt wird, an die sich alle Akteure halten müssen. Loyalität von der untersten Ebene bis zu den Schalthebeln der Macht ist dabei die wichtigste Voraussetzung. Wer in diesem Spiel rote Linien überschreitet, das System in Frage stellt oder auch nur verbal angreift, ist sich seines Lebens nicht mehr sicher. Jüngstes Beispiel in einer langen Kette von mysteriösen Todesfällen: Kremlkritiker Nawalnyi. „Wäre er denn in der Lage gewesen, eine Bewegung anzuführen“, wollte die Moderatorin wissen. Er hatte Charisma und viele Unterstützer, aber letztendlich können wir das nicht beurteilen, bedauerte Veser.

Vom Freundes- zum Feindesland

Schlesinger-Stoll hatte noch einige Fragen auf dem Zettel, verzichtete aber zugunsten der Gäste, die viele Fragen stellten, etwa ob es eine Wahlpflicht in Russland gäbe. Im Iran werde auch gewählt. Dort werde zum Boykott aufgerufen, obwohl es eine Wahlpflicht in dem Land gibt. Eine gesetzlich vorgeschriebene Wahlpflicht gibt es in Russland nicht, aber es werde indirekter Druck ausgeübt, so der Referent. Die Diskussion wurde teilweise sehr emotional geführt, Kritik am Kunst- und Kultur-Bashing, das sich gegen Künstler aus Russland und deren Werke richte, geäußert. Berichtet wurde obendrein von verbalen Angriffen auf Oberurseler Bürgerinnen mit russischem Pass. Günter Stiller vom Verein „Deutsch-Russische Brücke Bad Homburg“ stellte die bewegende Frage: „Wie sollen wir uns jetzt verhalten, wo Russland vom Freundes- zum Feindesland geworden ist.“

„Wir leben in unsicheren Zeiten, wir wissen nicht, wie sich der Konflikt weiterentwickelt und was passieren könnte, wenn das System Putin, das vor allem aus Seilschaften älterer Männer besteht, aus dem Gleichgewicht und ins Wanken gerät“, betonte Veser, der geduldig auf die vielen Fragen einging. Aber manche Frage offen lassen musste, denn er habe keine Glaskugel und könne nichts vorhersagen.

VFOS-Vorsitzender Helmut Egler bedankte sich für den informativen, aufschlussreichen Abend bei der Moderatorin mit einem Blumenstrauß und bei Reinhard Veser mit einem Kochbuch des Vereins, das landestypische Rezepte aus allen Partnerstädten enthält.

!Die Gesprächsreihe „Hallo Nachbar“ des VFOS wird fortgeführt. Am 15. März steht Frankreich kurz vor den Olympischen Spielen auf dem Programm, am 22. März England mit seinem neuen König Charles III. und am 26. April werden vor dem Hintergrund der anstehenden Europawahlen die Entwicklungstendenzen von „Europa“ näher beleuchtet. Die Gesprächsabende sind kostenfrei, eine Platzreservierung unter Telefon 06171-57480 oder im Internet unter www.vhs-hochtaunus.de ist aber erwünscht.



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