Kunst, Existenz, Freiheit – Morgners „Reliquie Mensch“ steht nun in St. Johanns Hof, voller Geschichte und Geschichten

Der Künstler Michael Morgner (vorne rechts) freut sich über die Enthüllung seiner Skulptur „Reliquie Mensch“.Fotos: Göllner

Kronberg (mg) – Urkundlich wurde die Johanniskirche im Jahr 1355 erstmals erwähnt, eine bedeutsam lange Zeit hinsichtlich der Entwicklung von Kunst und deren Zugang für die Bevölkerung bis zum April im Jahr 2024. Gesellschaftlicher und damit einhergehender politischer Wandel, den auch die kirchliche Erneuerungsbewegung der Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts deutlich kennzeichnete, schaffte Veränderungen, die bis zur Entstehung einer parlamentarischen Demokratie und eines säkularen Staates reichten. Martin Luther schlug seine revolutionären 95 Thesen gegen den kruden und ausbeuterischen Ablasshandel der katholischen Kirche im Jahr 1517 – in jedem Fall sinngemäß – an eine Kirchentür, allerdings an die in Wittenberg. Ein Symbol, dieses Papier mit seinen zahlreichen Protestmomenten und Anregungen, hochpolitisch und Transparenz einfordernd. Luther predigte „von der Freiheit eines Christenmenschen“. Dieser Gedanke spielte wenige Jahre später als Auslöser der Bauernkriege eine entscheidende Rolle. „Die Revolution des gemeinen Mannes“, wie das kämpferische Auflehnen der Bauern gegen Unterdrückung und Ausbeutung durch den damals amtierenden Klerus auch genannt wurde, schaffte ein Fundament der Motivation für die Gleichstellung und die Freiheitsrechte des menschlichen Individuums hierzulande.

Diskurs nach mehr als 750 Jahren

769 Jahre nach der ersten historischen Erwähnung der Johanniskirche machte an einem Sonntag im April zwar kein Revolutionär im Hof der Kronberger Altstadtkirche eine politische Aussage, dennoch sind die Werke des Künstlers Michael Morgner ohne Frage von politischer Strahlkraft. Auch wenn dieser im Schwerpunkt das zuvor genannte menschliche Individuum im Blick hat, so kommt man rasch durch das Leben des Künstlers, das so gut wie immer untrennbar von seinem Gesamtwerk ist, zu Gesellschaftspolitischem und dem Freiheitsbegriff des Menschen an sich. Dies wurde vor allem im Dialog zwischen Pfarrer Lothar Breidenstein und Michael Morgner offenkundig. Dort trafen zwei wache Geister aufeinander, denen das Menschsein an sich und die persönliche Freiheit und Würde des Menschen gleichermaßen an den jeweiligen Herzen liegen. Breidensteins sonntagvormittaglicher Fragenkatalog an Morgner beinhaltete komplex philosophische Themen: „Ist Zeit eine Dimension, die Ihr Schaffen prägt? Welche Bedeutung hat die Religion, hat das Christentum für Ihr Werk? Welche Transzendenz schreiben Sie dem menschlichen Wesen zu? Mit welchem Menschenbild sind Sie aufgewachsen, und hat sich Ihr Erleben auf Ihren Entwurf des Menschen ausgewirkt? Welche Rolle spielt das Leid in Ihrem Schaffen? Ist der Mensch in Ihrer Skulptur ein Gefangener? Ist er im Schutz gefangen? Was sagt die Figur nun an ihrem neuen Standort? Warum passt sie hierhin und was fügt sie dem Standort zu? Wo hat diese „Reliquie“ ihren Anschluss an Sozialität? Im Gottesdienst zuvor hatte Breidenstein bereits die Frage an alle anwesenden Menschen im Sinne des achten Psalms gestellt: „Was ist der Mensch?“

All diese Fragezeichen stellte sich der aufmerksame Zuhörer vermutlich zwangsläufig parallel selbst. Durch die Art des Fragens antwortete Breidenstein mehr als einmal gemeinsam mit Morgner. „Konkrete Erfahrungen von Leid und Tod führen zu der Essenz menschlichen Lebens“ – „Der Gottesbezug ist nur eine Dimension. Dem modernen Menschen gibt die Reliquie nicht die erschöpfende Antwort auf das menschliche Dasein“ – „Das, was übrig bleibt von einem Menschen, das ist die Reliquie.“ – „Gesättigt vom Tod und vom Leben, so sehe ich diese Statue.“ – „Eine weitere Dimension, das ,Jetzt‘ und das ,Heute‘, kommen hinzu.“ So lauteten die Antworten. Breidensteins geistreiche Bemerkungen ließen Morgner zu der Überzeugung kommen, dass er sein Werk nun ein gutes Stück mehr verstanden und somit ein großes Geschenk erhalten habe, einen Tag nach seinem tatsächlichen Geburtstag.

Was ist der Mensch?

Darauf soll die Skulptur in den Augen Morgners eine Antwort geben, in einer Welt, die immer mehr zerfällt. Zumindest in westeuropäischen Augen.

Für viele andere Menschen, denen die Skulptur an sich ebenso gleichen soll, zerfiel sie schon vor längerer Zeit. Oder auch erst vor kurzem. Und so sprach Morgner in seinem bisweilen sogar kurzweiligen Gespräch mit Pfarrer Lothar Breidenstein im Innenraum von Sankt Johann vor rund 120 Menschen im Publikum auch die aktuellen Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten an.

Persönliche Erfahrungen wie der Krebstod seiner ersten Ehefrau und eigene Erkrankungen flankierten die künstlerische „Motivation“ Morgners ebenso wie Weltpolitisches oder das eigene Leben in einer Diktatur. Die „Reliquie Mensch“ entstand zwar vor 21 Jahren, dennoch hat es mehr als den Anschein, dass in ihr das Zeitlose des Menschen existiert, das immer Existente und auch stets Vergehende. Die beiden parallelen biologischen Abläufe des Lebens und des Sterbens sind in der Körperlichkeit vereint. An ihnen ist bis zum heutigen Tag noch keine Existenz vorbei gekommen. Schützt der Glaube als Rahmen der „Reliquie Mensch“ vor einem absoluten Ende?

Jeder Strich politisch

„In der Retrospektive habe ich den Eindruck, dass jeder Strich von mir politisch war. Wahre Kunst ist am Schluss wohl stets politisch“, erklärte Michael Morgner, der am 6. April im Jahr 1942 in Chemnitz zur Welt kam, und so sollte er bis zur Wiedervereinigung sein Leben in der Deutschen „Demokratischen“ Republik (DDR) führen, auch sein künstlerisches. Kein einfaches Unterfangen. Er sei kein DDR-Künstler gewesen, sondern ein Künstler in der DDR, formulierte es Morgner in vergangenen Presseberichten. Das erklärte er auch in Kronberg: „Seelische Verletzungen eines Menschen regten und regen mich immer auf.“ Der Chemnitzer studierte in den 1960er Jahren an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und arbeitete im Anschluss als Freischaffender. Während des Gesprächs zwischen Breidenstein und Morgner in Kronberg nach dem Festgottesdienst zur Einweihung der Skulptur traf man auf einen humorvollen Kreativen, der mit seinem sächsischen Dialekt bewusst kokettierte und den provokanten, gleichsam behutsamen Schalk auf einer Schulter trug, gleichzeitig auch seine selbstkritische und bescheidene Seite der eigenen Persönlichkeit präsentierte. Nach eigenen Angaben erklärte Michael Morgner, dass er mit dem klassischen Menschenbild der DDR aufgewachsen sei. Der Begriff „Angst“ habe einen großen Raum in seinem künstlerischen Werk eingenommen. Diese Angst beschrieb Morgner als Gefühl der Unfreiheit, des Zwangs, der auferlegten DDR-Konformität, sowohl was Gedankengut als auch Alltag betraf. Als Mitglied der Künstlergruppe Clara Mosch zeigte er Flagge gegen das damalige Unrechtsregime der DDR. Sein persönlicher Einsatz für die künstlerische Freiheit wurde im Sinne des politischen Widerstands gegen deren Unterdrückung im Jahr 2023 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Morgner beschreibt die Seite neben dem Künstler in ihm als eher „lustig“, humorvoll allemal. Künstlerisch sei er „ein anderer“ und bezog sich damit vermutlich auf das Unbewusste des Menschen, das nicht ständig zum Vorschein kommt, Vorschein kommen kann, da der Mensch ansonsten den Alltag nicht zu bewältigen im Stande wäre. Auf die Bemerkung Morgners, dass Kunst wohl immer politisch sei, ergänzte Pfarrer Lothar Breidenstein: „Und häufig auch leidgeboren.“ Die letzte Frage nach der Bedeutung von Erlösung, die in seinen Werken eine größere Rolle spielt, wurde von Morgner ansatzweise beantwortet: „Erlösung muss man für sich selbst finden. Für mich könnte es sein, dass ich als Künstler meinen Platz fand. Das bedeutet, dass doch nicht alles umsonst war.“

Skulptur

Das im Jahr 2003 aus Stahl gefertigte und aus einer privaten Kronberger Sammlung gestiftete Kunstwerk Michael Morgners steht jetzt neben der Johanniskirche auf einem ehemaligen, nun eingeebneten Friedhof. Kein unpassender Ort für die der Skulptur innewohnende Frage nach dem grundsätzlichen Sinn der menschlichen Existenz, die an dieser Stelle „mehr emotional denn rational“ beantwortet wird. „Was ist der Mensch?“ und „Wohin geht er?“ sind der Grundsatzfrage immanente Anschlussfragen, zu der sich nun jeder Mensch beim Betrachten und Erleben der „Reliquie Mensch“ Gedanken machen kann und darf. Womöglich flankiert von der einen oder anderen individuellen und freien eigenen Antwort. Mit oder ohne religiösem Anteil. Es war ein recht langer Weg für die Evangelische Kirchengemeinde Sankt Johann bis zur Enthüllung des neuen Kunstwerks. Es galt, vieles zu bedenken. Wo sollte man das Kunstwerk positionieren? Wie sollte die Skulptur harmonisch mit dem Kirchengebäude selbst fungieren? Aspekte wie Sonnenstrahlen und Denkmalschutz mussten beachtet werden. Dass sich all das lohnte, ist nun zukünftig, zeitlos und dennoch im Wandel begriffen als weiteres Kunststück in der Kronberger Altstadt zu betrachten und zu erleben.

Bernhard Zosel und Countertenor Dmitry Egorov gestalteten den Festgottesdienst musikalisch.

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