Ich muss leben, leben, leben … Eva Szepesi in der Bischof-Neumann-Schule

Eva Szepesi in der Bischof-Neumann-Schule. Seit 20 Jahren rüttelt die Holocaust-Überlebende junge Menschen mit ihrer Lebensgeschichte auf.Fotos: Esther Schaller

Königstein (es) – „Ich muss leben, leben, leben...“ – so lautete die spontane Antwort der 91-jährigen Eva Szepesi auf die Frage der Jugendlichen in der Bischof-Neumann-Schule nach dem Wie-Weiter-Leben nach dem Holocaust.

Eine starke Antwort, die da aus der zarten Person am Lesepult sprach, die mit zwölf Jahren den Horror in Auschwitz überlebte. Beeindruckend war ihre Rede vor dem Bundestag am 31. Januar 2024 zum Gedenken an die Opfer der Shoah. „Wer schweigt, macht sich schuldig“, so ihre Botschaft. Und so ist sie seit nunmehr 20 Jahren unermüdlich unterwegs in Schulen und an Gedenkorten, um als eine letzte Zeitzeugin aufzurütteln: „Zu erzählen, was die Toten nicht mehr können“.

Schulleiter Jens Henninger und Kollegen vom Fachbereich Geschichte hatten bereits zum zweiten Mal Eva Szepesi gebeten, den Schülerinnen und Schülern der 9. Klassen von ihren Kindheitserfahrungen im NS-Regime zu berichten. Im Vorfeld gut informiert über das an Juden und anderen Völkern verübte Verbrechen, hörten die ca. 90 Jugendlichen am vergangenen Freitag atemlos den grausamen Schilderungen zu. Man spürte ihnen die Fassungslosigkeit an angesichts der sehr persönlichen Erinnerungen Eva Szepesis.

Diese wurde 1932 in Ungarn als Kind jüdischer Eltern geboren. Die Familie lebte gut situiert in einem Vorort von Budapest. Mit acht Jahren brach die bis dahin glückliche Kindheit Evas und die ihres drei Jahre jüngeren Bruders Tomas jäh auseinander. Erste Anzeichen von Feindseligkeit spürten sie durch plötzliches Abwenden und Beschimpfungen ihrer Schulfreunde. Die bereits seit langem schwelende Judenfeindlichkeit in Ungarn bekam einen neuen Schub durch das deutsche NS-Regime ab 1933. Langsam zeichnete sich ab, dass die Verfolgung immer konkreter wurde.

Deportation, Leid undBefreiung

Die Unruhen veranlassten die Mutter – der Vater war inzwischen im Krieg verschollen – Eva in die Obhut einer Tante zu geben. Mit dieser begann ab 1938 eine vierjährige Flucht für das Kind von Versteck zu Versteck in der Slowakei. Diese endete jäh, als die Deutschen 1944 auch in die Slowakei einmarschierten und die sofortige Deportation aller Juden veranlassten. Hunderte von Zügen mit Ziel Auschwitz verließen innerhalb kürzester Zeit das Land. Ohne ein Lebenszeichen von Eltern und Bruder wurde auch Eva in einen Zug nach Auschwitz verfrachtet.

Nach tagelangem Transport im dunklen, stinkenden, engen Viehwaggon ohne Nahrung erreichte Eva am 3. November 1944 die Rampe, empfangen von wütenden Befehlen, bellenden Schäferhunden, Stöcken, Peitschen und Gewehren. Vor Ort begann sofort die Selektion der Angekommenen mit beschämendem Nacktsein, Haareabschneiden und Tätowieren der Nummer. Durch das Zuflüstern einer Aufseherin „Sag, Du bist 16“ entging Eva den medizinischen Experimenten an Kindern durch Lagerarzt Josef Mengele. Die erst Zwölfjährige wurde zu hartem Arbeiten verpflichtet, in Eis und Schnee, ohne schützendes Schuhwerk und Bekleidung, ohne kräftigende Nahrung und umgeben von massenhaftem Leid und Tod. Völlig entkräftet und dem Hungertod nahe lag sie irgendwann „vergessen“ in der Baracke – alle „Gesunden“ waren zum letzten Todesmarsch aufgefordert worden. Am 27. Januar 1945 entdeckten und befreiten russische Soldaten das bewusstlose Kind.

Die allernächste Zeit in einem Auffanglager beschreibt Eva als Wiederbelebung nach dem Überleben. Auf sich allein gestellt gelang es der 13-Jährigen, durch Verdrängen der Erlebnisse zurück ins Leben zu finden. Sie ging in Budapest wieder zur Schule, machte Abitur und eine Berufsausbildung, heiratete und bekam ihre Töchter. Ein täglicher Kampf um „Normalität“ wurde immer wieder gestört. In besonderer Weise, als ihr Ehemann Mitte der 50er Jahre als Außenhandelsvertreter nach Frankfurt am Main musste und in der Folge ein Umzug der Familie nach Deutschland unumgänglich wurde.

Sie schwieg 50 Jahre lang – und wurde dann zur „Stimme der Toten“

50 Jahre schwieg Frau Szepesi. Ihr Ehemann, ebenfalls jüdischer KZ-Häftling, ihre zwei Töchter sowie die Enkelinnen erfuhren nichts Näheres aus der Vergangenheit.

Ein Anruf 1994 der Shoah Foundation löste den Aufbruch des Erinnerns in Eva Szepesi aus. Ein mühsamer Weg mit körperlichen und seelischen Schmerzen begann. Erst durch das Schreiben gelang es ihr, konkrete Situationen an all die Grausamkeiten, die sie als Kind erleben musste, zuzulassen. 2011 erschien ihr Buch „Ein Mädchen allein auf der Flucht“ im Metropol Verlag.

Sie besuchte mit ihren Enkelinnen das Lager Auschwitz und fand mit deren Hilfe in einer der Baracken den Namen ihrer Mutter und ihres Bruders, die einige Monate vor Evas Ankunft dort vergast worden waren. Bis dahin hatte sie unentwegt gehofft auf ein Wiedersehen. Unvorstellbar, zu welcher Erinnerungsarbeit sie sich nun weiter auf den Weg machte, um nun als „Stimme der Toten“ das Unwissen und Schweigen für zukünftige Generationen zu durchbrechen.

Nach Albertus Magnus, dem dominikanischen Kirchenlehrer, „Der Vergangenheit verpflichtet – auf die Zukunft ausgerichtet“, ist es der Bischof-Neumann-Schule ein Anliegen, die Schüler mit dem, was geschehen ist und noch geschieht, zu konfrontieren. In besonderer Weise muss dies nun nach dem Anschlag am 7. Oktober durch die Hamas auf Israelis geschehen. Das neue Aufflammen von antijüdischem Gedankengut ist unerträglich und ein Leben in Freiheit für Juden in Deutschland ist erneut gefährdet.

Eindringlich bat Eva Szepesi die Jugendlichen, nicht zu schweigen, da, wo Verleumdung und Unrecht geschieht. Noch einige Fragen zu ihrem Leben im Hier und Jetzt beantwortete sie mit großer Geduld. Als ob sich die Jugendlichen dessen, was sie gerade Erschütterndes gehört hatten, versichern wollten, baten sie die Holocaustüberlebende, ihnen die eintätowierte Nummer auf dem Arm zu zeigen.

In schweigender Hochachtung und mit Dankbarkeit an Frau Szepesi ging diese bewegende Stunde zu Ende.



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