Stefan Zweigs Werk „Die Welt von gestern“ in der literarischen Spätlese

Bei der Spätlese ist nicht nur Aufmerksamkeit gefragt, es sind auch kritische Überlegungen willkommen. Wie die Mienen von Dr. Michael Hesse (links) und Manfred Colloseus hier recht deutlich erahnen lassen, wird stets versucht, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, auch wenn die kleinen grauen Zellen dabei zu qualmen beginnen. Foto: Krüger

Königstein (sk) – „Für mich gehört „Die Welt von gestern“ von Stefan Zweig definitiv zu den zehn unentbehrlichen Dingen, die ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde“, so das Fazit von Dr. Michael Hesse, nachdem er seine knapp 30 Zuhörer in der Stadtbibliothek kenntnisreich durch das 500 Seiten starke Buch mit dem Untertitel „Erinnerungen eines Europäers“ geführt hatte. Das Werk war kurz vor Zweigs Tod in den letzten Jahren seines Exils in Brasilien (von 1939 bis 1941) entstanden und erschien postum 1942.

Aus der Perspektive eines Sechzigjährigen blickt der Erzähler auf sein Leben, vornehmlich auf seine in Wien verbrachte Kindheit und Jugend, auf die Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg sowie auf seine im Exil verbrachten Lebensjahre bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Was ist eine Autobiografie?

Die fein gewobene literarische Struktur der Ich-Erzählweise nehme den Leser regelrecht gefangen, formulierte ein Zuhörer. Aber handele es sich deshalb um ein autobiografisches Werk, wollte Dr. Hesse im Dialog darauf wissen. „Erfahren wir als Leser viel von dem Menschen Zweig in diesem Buch?“, fragte er provokant.

Das Werk enthalte zwar einige persönliche Innenansichten des Ich-Erzählers, auch erfahre der Leser beiläufig etwas über die beiden Ehefrauen von Zweig, aber sein persönliches Leben habe er in diesem Buch nicht dargestellt, sondern nach Ansicht von Dr. Hesse vielmehr herausgehalten.

Zweig gehe es vornehmlich um die Beschreibung der Kultur, der Mode, des Lebens der Jugendlichen, des Erziehungssystems, der Sexualmoral und des Wertesystems des „alten Europa“ mit Schwerpunkt auf Wien und der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarns. Deshalb handele es sich entgegen der weitläufig verbreiteten Auffassung nicht um eine Autobiografie, so der Referent, sondern eher um eine Zeitgeistbeschreibung bzw. ein authentisches Portrait eines gut bürgerlichen Intellektuellen mit allen Einschränkungen, die solch einem Elitedenkenden innewohnen.

Kritik am k.u.k.-Schulsystem

Kennzeichnend für das Buch sei laut Dr. Hesse Zweigs stetige Konzentration auf Gegensätzlichkeiten. Seine Beschreibungen der k.u.k.-Monarchie seien fast schon hymnisch. Alles laufe in gesicherten Bahnen ab. Kein Wunder, da Zweig ja als Sohn eines reichen Elternhauses aufwachse, dessen kulturelles Umfeld in dem zur Weltstadt avancierenden Wien seine Begeisterung für Literatur geprägt habe. Aber in der Retrospektive habe Zweig die während seiner Kindheit bestehenden Verhältnisse auch kritisch betrachtet. Beispielsweise bemängelt er das autoritäre Schulsystem und die praktizierten Lehrmethoden.

Eine zeitgeschichtliche Wende beginnt für Zweig mit dem Zusammenbruch des Weltvertrauens, dem Glauben an den technischen Fortschritt mitsamt all seiner sozialen Verwerfungen und dem Beginn des Ersten Weltkriegs. „Zweig war ein explizit apolitischer Autor“, erklärte Dr. Hesse. „Er wollte keine politische Stellung beziehen.“ Er habe sich immer als Kosmopolit gesehen und als Vermittler einer künftigen Völkerverständigung. Mit seiner Parteilosigkeit bezahle er den Preis für seinen unerfüllten Traum von Europa, so der Referent.

Europa-Vision zerplatzt

Zweigs Vision von einer geistigen Einheit Europas zerplatzt schließlich mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten. Als Auslöser für seine Emigration – zunächst nach London, Amerika und später nach Argentinien und Brasilien – nennt Zweig eine polizeilich angeordnete Hausdurchsuchung in seinem Haus.

Der Verlust seiner Staatsangehörigkeit 1938 markiert den Beginn seiner Sinnsuche und seiner Hilfsbedürftigkeit als Staatenloser. „Ohne Heimat zu sein, machte Zweig schwer zu schaffen“, stellte Dr. Hesse fest und verwies auf einzelne Textstellen in dem Buch, die Zweigs Depressionen andeuten.

Eine kurze Bilanz seines Lebens überlässt Zweig seinen Lesern zum Schluss des Buches: „Aber jeder Schatten ist im Letzten doch auch ein Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.“ Stefan Zweigs Idee eines geeinten Europas in „Die Welt von gestern“ liest sich heute wie ein Appell an alle Europaskeptiker, sich an die Anfänge dieser europäischen Idee nochmals zu erinnern. „Was Stefan Zweig zu unserer heutigen europäischen Union wohl sagen würde?“ Diese Frage ließ Dr. Hesse vielsagend im Raum stehen. Seine Zuhörer nutzten seinen informativen und amüsanten Vortrag zu einem fortgesetzten regen Austausch. Lust auf mehr geistige Bestätigung bekommen? – Am 14. Mai um 20 Uhr wird die Stadtbibliothek eine philosophische Runde zum Thema „Glück – Was ist das?“ veranstalten.



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