Vom geschnitzten Ohr bis hin zum Handy

Die Leiterin des Philipp-Reis-Hauses, Dr. Erika Dittrich (r.), informiert in einer Sonderführung mehr als 30 Besucher am 150. Todestag des Telefonerfinders über dessen Leben und bahnbrechende Erfindung. Foto: fch

Friedrichsdorf (fch). Um ein wichtiges Telefonat mit dem Osterhasen zu führen, ist Jonas mit seinem Papa und seiner Oma am Sonntag extra ins Philipp-Reis-Haus gekommen. Dort konnte der Vierjährige unter einer großen Anzahl von Telefonapparaten einen für seinen nicht alltäglichen Anruf auswählen. Um dann gespannt in den Hörer zu lauschen. „Der Osterhase fährt Schlitten“, informierte der junge Friedrichsdorfer strahlend seine Familie. Jonas wollte mit dem Osterhasen telefonieren, weil er ihm helfen will, sich neue Muster für die Ostereier-Bemalung auszudenken. Ermöglicht hat dieses Telefonat dem fantasievollen Jungen mit Johann Philipp Reis (1834-1874) ein anderer erfindungsreicher Friedrichsdorfer Bürger.

Dessen Todestag jährte sich am Sonntag zum 150. Mal. Aus diesem Anlass hatte die Leiterin des Philipp-Reis-Hauses, Dr. Erika Dittrich, zu einer Sonderführung eingeladen. Sie informierte die mehr als 30 Teilnehmer bei einem Rundgang durch das ehemalige Wohnhaus der Familie Reis, in dem sich das heutige Museum befindet, über das Leben, Wirken und Vermächtnis des Lehrers, Physikers und Erfinders. Mit zehn Jahren kam der Bäckerssohn Philipp aus seinem Geburtsort Gelnhausen nach Friedrichsdorf. Die Großmutter hatte den Vollwaisen ins einige Häuser entfernte Knabeninternat „Institut Garnier“ geschickt. Hier wurde sein Interesse an modernen Sprachen und Naturwissenschaften geweckt. Sein Vormund, Schneidermeister Christian Schmidt, schickte den 14-Jährigen jedoch in die Lehre bei einem Frankfurter Farbenhändler.

An Schlittschuhen befestigte der erfindungsreiche Philipp kleine Metallrädchen und konstruierte so die ersten Rollschuhe, die 20 Jahre später, als der glatte Asphalt aufkam, Verbreitung fanden. Auch das Velociped, ein per Hebel angetriebenes Dreirad, war eine Erfindung von Reis. Naturwissenschaftliche Studien nahm Philipp Reis in Frankfurt während seiner Zeit beim Militär auf mit dem Ziel, sich in Heidelberg als Lehrer für Naturwissenschaften ausbilden zu lassen. Auf dem Weg dorthin besuchte er seinen alten Lehrer Louis Frédéric Garnier, der ihm, als er von den Plänen seines einstigen Schülers erfuhr, eine Stelle an seinem international bekannten Institut anbot.

Dank seines festen Einkommens kaufte Reis das Haus Hugenottenstraße 93 und heiratete die Tochter seines Vormunds, Margarethe Schmidt aus Gelnhausen. Reis, dem seine Schüler den Spitznamen „Schlosser“ gaben, unterrichtete Französisch in den unteren Klassen sowie in den oberen Klassen vor allem Physik, denn für seine Experimente erhielt er einen Gehaltszuschlag. Und so veranschaulichte der strenge, aber bei den Schülern beliebte Lehrer, oft Modelle, um ihnen physikalische Sachverhalte zu veranschaulichen.

Eins davon war ein Gerät mit dem man Töne in die Ferne übertragen kann. „Philipp Reis schnitzte das Ohr nach, wobei eine Membran das Trommelfell simulierte und eine Metallzunge den Hammer. Verbunden war das Ohr über einen Kupferdraht mit einer Stricknadel“, informierte die Museumsleiterin. Geschlossen hat der Erfinder den Stromkreis, indem Schallwellen eine Vibration der Membran auslösten, diese dann an den Metallstift kam und so den Strom weiterleitete. Erreichte dieser die um eine Stricknadel gewickelte Spule, baute sich ein Magnetfeld auf. Die Nadel begann leicht zu vibrieren, wobei zarte Töne entstanden. Um diese lauter hörbar zu machen, stellte der befreundete Musiklehrer seine Geige als Resonanzkörper zur Verfügung. Damit hatte Reis um 1860 das erste Telefon entwickelt. „Der erste Telefondraht verlief von der zur Werkstatt ausgebauten Scheune ins Wohnhaus“, teilte Dittrich mit.

Bei Tests sprach Reis’ Schwager in den Geber – das geschnitzte Ohr – und Reis wiederholte fehlerfrei die Sätze, die er am Nehmer – der Stricknadel – verstand. Um den Vorwurf zu entkräften, dass er die vom Schwager vorgelesenen Texte auswendig kenne, dachte sich der Sprecher unsinnige Sätze aus wie den berühmten „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“ oder „Die Sonne ist von Kupfer“. Allerdings verstand Reis „Die Sonne ist von Zucker“, wie die Museumsleiterin erzählte.

Am 26. Oktober 1861 stellte Reis den Mitgliedern des Physikalischen Vereins in Frankfurt während seines Vortrags „Über die Fortpflanzung musikalischer Töne auf beliebige Entfernungen durch Vermittlung des galvanischen Stromes“ erstmals öffentlich das von ihm entwickelte Telefon vor. „Die Telefonate funktionierten nur in einer Richtung. In die Gegenrichtung hätte der Angerufene nur zurückmorsen können“, sagte Dittrich. Reis ließ Apparate vom Frankfurter Mechaniker Wilhelm Albert in kleiner Serie bauen, zog eigenhändig die Membran auf und verschickte das Telephon samt Gebrauchsanweisung in ganz Europa und sogar nach Amerika.

Das erste Telefonbuch, „Das Buch der 99 Namen“, enthielt 99 Namen von Journalisten, Börsianern und Kaufleuten. Mit seiner Entwicklung des ersten funktionierenden Geräts zur Übertragung von Tönen über elektrische Leitungen gilt Reis als zentraler Wegbereiter des Telefons. „Reis hat das Telefon erfunden, Alexander Graham Bell hat es verbessert. Ihm gelang es, Sender und Empfänger in einem Gerät zu vereinen“, fasste Dittrich zusammen Bell konnte in den USA seine Erfindung patentieren lassen, Reis hatte diese Möglichkeit in Deutschland noch nicht. Der Telefonerfinder Reis starb als 40-Jähriger an Tuberkulose. „Ich habe der Welt eine große Erfindung geschenkt, anderen muss ich überlassen, sie weiterzuführen“, sage er auf dem Sterbebett zu seinem Freund und einstigen Lehrer Louis Frédéric Garnier. Ruhm und Anerkennung wurden dem „Dorfschullehrer“ ohne akademische Ausbildung erst posthum zuteil.

Ab Februar 2024 öffnet das Philipp-Reis-Haus jeden ersten Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr.

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