Sexueller Missbrauch war lange ein Tabuthema – doch die Aufarbeitung ist im Gang

Erstmals wurde im Bistum Limburg zu einer Aufarbeitungsveranstaltung in eine Pfarrei eingeladen. Organisiert und durchgeführt wurde sie von Gregor Noll (UKO), Sandra Gudehus (Fachstelle gegen Gewalt), Professorin Milena Noll (UKO), Dagmar Gerhard (Fachstelle gegen Gewalt), Silke Arnold (Fachstelle gegen Gewalt), Frederike Petronio (Fachstelle gegen Gewalt) und Pfarrer Marcus (Pfarrei Heilig Kreuz Rheingau, Geisenheim).Foto: A. Goerlich-Baumann/Bistum Limburg

Hessen (kez) – „Mir ist das ganz schnell ganz komisch vorgekommen.“ Offen und gleichzeitig schmerzlich bewegt beschreibt ein heute 62-jähriger Wiesbadener, wie ein Ordenspriester ihn und seinen Bruder mit 13 Jahren sexuell missbraucht hat. Von einem Tag auf den anderen wurde die freundliche Respektsperson, die bei der Familie ein- und ausging, zum persönlichen Albtraum der beiden Söhne. Was folgte, waren Scham, jahrelanges Schweigen, Schulversagen und ein Suizidversuch. Erst mit 16 Jahren vertraute sich der Betroffene der Familie an. „Wieso habt ihr nichts gesagt?“, bekamen die Jugendlichen damals zu hören. „Ich hätte mir so gewünscht, dass einer gefragt hätte: Was ist passiert?“, so der Mann. Später gestand ihm seine Mutter, sie habe Angst vor der Wahrheit gehabt.

Verunsicherung in den Pfarreien

Im Interview mit Silke Arnold, Präventionsbeauftragte und Leitung der Fachstelle gegen Gewalt im Bistum Limburg, spricht der Betroffene über seine traumatisierenden Erfahrungen in der Jugend. Er betont vor den rund 30 Anwesenden, die die Veranstaltung „Sehen, verstehen und schützen – sexueller Missbrauch verändert Kirche vor Ort“ besuchen, dass das offene Gespräch über das Geschehene ihm Entlastung gegeben habe und rät jedem Menschen, der sexuellen Missbrauch erlebt hat, sich an Beratungsstellen zu wenden.

Erstmals hatten die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexueller Gewalt im Bistum Limburg (UKO), die Pfarrei Heilig Kreuz Rheingau und die Fachstelle gegen Gewalt gemeinsam zu einer Aufarbeitungsveranstaltung in eine Pfarrei eingeladen – weitere sollen folgen. Die Veranstaltung fand in Geisenheim statt, im Gemeindesaal von Heilig Kreuz Rheingau.

Sexueller Missbrauch in der Kirche und der Umgang mit den Betroffenen hat nicht nur individuelles Leid verursacht, sondern auch zu einer großen Verunsicherung in den Pfarreien und kirchlichen Institutionen geführt. Viele fragen sich: „Wie konnte das geschehen?“ Und: „Was tun wir, dass so etwas nicht wieder passiert?“ Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Abends, den Dagmar Gerhards von der Fachstelle gegen Gewalt mit viel Einfühlungsgefühl moderierte.

Bittere Realität

Die Frankfurter Professorin Milena Noll gab zunächst eine Begriffsbestimmung. Sexueller Missbrauch könne überall passieren, betonte Noll, die Mitglied der UKO ist. Täterinnen und Täter blieben oft unerkannt, da die Kinder oft schwiegen. Deshalb brauche es aufmerksame Erwachsene. „Hinschauen schützt die Kinder, wegschauen die Täter“, machte Noll deutlich, die als Formen sexuellen Missbrauchs körperliche Gewalt, nicht-körperliche – zum Beispiel digitale – Gewalt und Grenzverletzungen aufzählte.

Nach einer Pause gingen Sandra Gudehus, Interventionsbeauftragte und Leitung der Fachstelle gegen Gewalt im Bistum Limburg, und Gregor Noll, Sozialpädagoge und Familientherapeut sowie Mitglied der UKO und des gemeinsamen Betroffenenbeirats der Bistümer Fulda und Limburg, auf konkrete Vorfälle im Rheingau ein. Sexueller Missbrauch sei auch vor Ort „bittere Realität“ für Jungen und Mädchen gewesen, insbesondere in den 60er-Jahren, so Gudehus. Damals sei sexueller Missbrauch ein Tabuthema gewesen. Vieles sei vertuscht worden, indem die Kleriker einfach versetzt wurden. Ausnahmen seien in den 60ern etwa die einjährige Haftstrafe für einen Kleriker im Rheingau gewesen, ebenso die fünfjährige Haftstrafe für einen Krankenhausseelsorger.

Ein weiterer Priester, über den erst im Jahr 2010 erste Meldungen im Bistum ankamen, habe als Jugendpfarrer in den 60ern bis in die 80er Schutzbefohlene missbraucht, sagte Gregor Noll, der weitere Betroffene aufforderte, sich zu melden. „Wir möchten alle ermutigen hinzuschauen“, so auch Gudehus.

Nachfragen statt wegschauen

Im Anschluss ging Milena Noll auf Täterstrategien und sinnvolle Maßnahmen zum Schutz von Kindern ein. Missbrauchstäter gehen stets geplant vor und bauen zunächst Vertrauen und Nähe auf, um dann mit Drohungen und Schuldzuweisungen das Schweigen der Opfer zu erzwingen. Orte des Geschehens seien mittlerweile auch Online-Räume. Aufgabe der Erwachsenen sei es, bei Kindern wichtige Signale zu erkennen und gleich nachzufragen. Ein Rückzug ins Schweigen, eine sexualisierte Sprache, Aggressionen, Schulprobleme, Schlaf- oder Essstörungen sowie Selbstverletzungen können dabei wichtige Hinweise sein. „Ein Kind braucht einen Menschen, der nachfragt, der nicht wegsieht“, so Noll und fügte hinzu: „Die Verantwortung beginnt bei uns.“

Die katholische Kirche hat gelernt

Die Pfarrei Heilig Kreuz Rheingau hat in den letzten Jahren vielfältige Präventionsmaßnahmen eingeführt, um Kinder, Jugendliche sowie schutz- und hilfebedürftige Erwachsene vor sexueller Gewalt zu schützen und betroffene Personen zu unterstützen. Zum Abschluss der Aufarbeitungsveranstaltung stellte Pfarrer Marcus Fischer vor, wie sich die Kirche vor Ort verändert hat. „Kirche beging Verbrechen. Kirche verändert sich. Kirche lernt“, sagte der Pfarrer, der sowohl Zustimmung als auch Ablehnung für die konsequente Umsetzung der Prävention in der Pfarrei erfährt.

„Heilung ist möglich“, sagt der Betroffene am Ende eines emotionalen und informativen Abends. „Es ist ein langer Weg, aber möglich.“

Kontakt: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexueller Gewalt im Bistum Limburg (UKO). E-Mail: kontakt[at]uko-limburg[dot]de, Tel. 0171 69 59 161, Homepage: uko-limburg.de



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