„Wir müssen uns viel mehr vor dem Hass hüten“

Christian Wulff versteht es in seiner Rede beim Jahresempfang des Kreises im Güterbahnhof, die Gäste zu packen. Foto: fk

Hochtaunus (jas). Kaum hat er an der Seite von Landrat Ulrich Krebs den Güterbahnhof betreten, wird es unruhig. Gespräche werden lauter, Köpfe drehen sich, Fotografen eilen zum Eingang und zücken die Kamera. Jeder möchte einen Blick auf den Gastredner beim Jahresempfang des Hochtaunuskreises erhaschen, viele wollen Hände schütteln und ein paar Worte mit ihm wechseln. Immerhin ist Christian Wulff ehemaliger Bundespräsident und niedersächsischer Ministerpräsident und genießt noch immer hohes Ansehen. Langsam bahnt er sich, flankiert von Krebs und dessen Frau Daniela, den Weg nach vorne zur Bühne. Längst sind die wenigen Stühle im sommerlich-heißen Güterbahnhof besetzt, längst haben die, die keinen Sitzplatz gefunden haben, sich auf Barhockern niedergelassen oder an Stehtischen platziert.

Die musikalische Begrüßung des einstigen Staatsoberhaupts, der nach Bad Homburg in der Funktion des Präsidenten des Deutschen Chorverbands gekommen ist, übernimmt der Jugendchor Hochtaunus mit Dirigent Tristan Meister. Die jungen Sänger zwischen 14 und 25 Jahren haben sechs Stücke aus ihrem Jahresprogramm mitgebracht, das seinen Schwerpunkt auf geistlichen Liedern hat. Keine leichte Kost für einen Empfang am Ende eines heißen Sommertags. Und so haben es die jungen Leute, die auf hohem Niveau singen, nicht leicht, gegen ständiges Hintergrundgemurmel anzukommen. Die Konzentration der Ehrengäste in den ersten Reihen aber ist ihnen gewiss.

Dichten und Denken

Die Begrüßung aller, die in den Güterbahnhof gekommen sind – darunter Politiker und Diplomaten, Vertreter aus Wirtschaft und Handwerk, von Vereinen und Verbänden, von Schulen, Kirchen und Rettungsdiensten – übernimmt Krebs. In seiner Ansprache geht es um Bildung, zu der auch die Kultur gehört. „Für die Lebendigkeit der Städte und Gemeinden ist die Kultur ein zentraler Faktor. Und da brauchen wir uns im Hochtaunuskreis nicht zu verstecken.“ Kultur und Vernunft, Dichten und Denken bedinge einander, betont Krebs und leitet damit zu seinem Gast über. Wulff sei als Politiker „ein Mann der praktischen Vernunft“, in seinem Amt als Präsident des Chorverbands ein „Anwalt der Kultur“.

Als überzeugender, souveräner Redner, der es versteht, Probleme beim Namen zu nennen und dennoch Optimismus zu verbreiten, präsentiert sich Wulff beim Jahresempfang. Und das, obwohl das Vortragsthema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft“ doch eher trocken klingt. „Ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie“, sagt Wulff. Die jetzige Generation habe eine besonders große Aufgabe. Nach Wiederaufbau und Wiedervereinigung gehe es jetzt darum, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Zwar seien die objektiven Zahlen so gut wie nie zuvor, „aber die Stimmung ist mieser als je zuvor“. Daher lohne es, sich vor Augen zu führen, „was uns zusammenhält“, sagt Wulff und zählt Sprache und Grundgesetz, Bildung und Ehrenamt, aber auch die so oft verpönte „Vereinsmeierei“ auf. „Die Vereine sind bedeutend für den Zusammenhalt, für Integration und Glück.“

Als die große Herausforderung in einer Zeit der Extreme sieht Wulff die Sicherung der menschlichen Gemeinschaft für ein friedliches Zusammenleben. „Menschen und Politik müssen extrem innovativ sein.“ Internet, Twitter und Facebook haben die Welt komplett verändert. Jeder können mitwirken, seine Meinung kundtun, und „auch die dusseligsten Ideen werden verbreitet und finden Anhänger“, so Wulff. Aber: „Respekt, Einfühlungsvermögen und Empathie gehen verloren.“ Es gebe menschenverachtende, spaltende, hasserfüllte Beiträge, und „niemand kann eingreifen oder dazwischengehen“, betont der Christdemokrat und erinnert in diesem Zusammenhang an den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni. „Wir müssen uns viel mehr vor dem Hass hüten, denn Hass zerfrisst unsere Gesellschaft von innen.“

Man müsse verhindern, dass der rechte oder linke Rand die gesellschaftliche Mitte zerstört. „Wir müssen Menschen, die meinen, sie müssten Kreuzzüge führen, widersprechen und am besten zum Sechs-Augen-Prinzip übergehen“, sagt Wulff. Ein bisschen eben wie beim Videobeweis im Fußball. Man müsse sich immer wieder klar machen, dass Deutschland durch Vielfalt groß geworden ist. Und einer multikulturellen Gesellschaft gehöre auch die Zukuft. Nachdrücklich appelliert er, die „zukunftspessimistische Ader“ beseite zu lassen. „Zukunft und Zuversicht stünden uns gut an. Ebenso wie Zusammenhalt und Respekt. Hieß es früher: ‚Wir lösen das‘, werden diese Worte heute nur noch gehaucht.“

Lange applaudieren die Gäste für die frei gehaltene, gelungene Rede Wulffs, den Krebs mit einem Geschenk aus den Oberurseler Werkstätten verabschiedet. Bevor das Büfett eröffnet wird, nimmt der Jugendchor noch einmal Aufstellung und singt tapfer gegen die allgemeine Unruhe an – bis ein Gast aufsteht und beherzt „Ruhe“ in den Saal ruft. Dann schaffen es alle noch einmal, für fünf Minuten zu schweigen und zuzuhören.

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