Die Weihnachts-Tränen

Die folgende Geschichte muss sich wohl 1960 oder 1961 am 24. Dezember in einem hessischen Dorf zugetragen haben. Eine gute Freundin der Familie hat mir einmal von dieser Begebenheit erzählt, und ich möchte versuchen, sie hier wiederzugeben...

... dabei schaue ich durch ein Fenster, nein, ich kann sogar durch Türen hindurch sehen ... und ich kann jedes Wort, jedes Geräusch, selbst das leise tönende, manchmal kratzende Radio gut hören ...

Ein Elternpaar sitzt mit dem Töchterchen in der Küche. Im Küchenherd knistert das Feuer. Die Mutter hat Schlesische Bratwürste und Sauerkraut bereitet, und man schickt sich an, die bescheidene Mahlzeit zu essen. Der Vater meint: „Ich freue mich schon auf die Gans morgen Mittag.“ Seine Frau lacht: „Ja, ja, ich weiß. Das wird das Festessen nach deinem Geschmack. Aber früher, bei uns daheim in Schlesien, gab es zu Heilig Abend immer Bratwurst, Sauerkraut und Kartoffeln mit brauner Butter. Ich freue mich jetzt erst einmal auf die Bescherung nachher. Gelt, mein Schatz? Und wann kommen deine Eltern herauf zu uns? Um sieben? Gut.“

Schweigend essen sie weiter. Vom Radio auf dem neuen Kühlschrank in der Ecke erklingt ein Weihnachtslied.

Da hält sich das Mädchen plötzlich den Bauch und stöhnt. Auf dem Teller liegt noch ein kleines Ende der Bratwurst, ein Stückchen Kartoffel und ein winziger Rest Sauerkraut. „Oooch, mir ist gar nicht gut. Ich möchte nichts mehr essen. Oh, mein Bauch, oh, mein Kopf! Darf ich mich, bevor das Christkind kommt, noch ein bisschen hinlegen?“ Die Eltern schauen erschrocken auf ihr Kind. Wie kann das sein, dass Siglinde auf einmal Bauchweh hat? Ob das Essen für sie etwa zu fett war? Ausgerechnet heute Abend! Da kann man nichts machen. Soll sie noch ein Verdauungsschläfchen halten.

Die Mutter sagt: „Aber im Schlafzimmer ist es entsetzlich kalt. Da blühen sogar am Doppelfenster die Eisblumen. Und überhaupt ist heute Abend hier Eintritt verboten. Du darfst dich ausnahmsweise im Wohnzimmer auf‘s Sofa legen. Du hast ja den Weihnachtsbaum sowieso schon gesehen, als Vati ihn mit der bunten elektrischen Lichterkette geschmückt hat, die im Weihnachtspaket von Tante Irmgard in Amerika war. Ich werde dir noch schnell die Wärmflasche geben, ja?“

„Ja, Mama“, kommt es leise und gequält von dem Kind. „Aber lasst mich bitte ganz in Ruhe. Vielleicht wird´s mir dann bald besser.“

Der Vater geht ins Erdgeschoss zu seinen Eltern und sagt ihnen Bescheid, dass es dem Kind nicht wohl ist und dass sie die Bescherung erst um halb acht anfangen wollen.

Im Wohnzimmer – die Leute haben kein Kinderzimmer – deckt die Mutter die Kleine mit einer Wolldecke zu, streicht ihr über den Kopf und gibt ihr einen Kuss. „Na, bestimmt ist es alles wieder gut, wenn nachher das Christkind kommt.“ Dann geht sie wieder in die Küche. Sorgen macht sie sich doch, und natürlich kommt sofort die Großmutter herauf, um sich nach der Enkelin zu erkundigen. „Hoffentlich ist es nichts Schlimmes!“

„Ja, ich mach‘ mir schon arge Gedanken. Wir werden doch nicht am Heiligen Abend einen Arzt herholen müssen! Aber wir stören das Kind lieber nicht. Siglinde wird sich schon erholen.“ Aber, was macht Siglinde denn da?! Sie hat doch Bauchweh. Sie hat doch so geklagt, es ginge ihr nicht gut.

Ein Weile hat sie ganz still dagelegen und gelauscht. Der Ofen brummt und knackt. Die Großen laufen die Treppe hinunter und herauf und reden ganz leise...

Doch jetzt strampelt Siglinde die Decke zurück, klettert vom Sofa direkt in die Ecke zwischen Sofa und Fenster und kramt ihren Turnbeutel unter dem Puppenbett hervor. Eines nach dem anderen holt sie die Geschenke heraus, die sie in den vergangenen Wochen gebastelt oder von ihrem Taschengeld gekauft hat. Seit sie in die Schule geht, bekommt sie nämlich jeden Samstag zwei Mark Taschengeld, die sie normalerweise streng spart.

Eilig breitet sie alles hübsch auf dem Wohnzimmertisch vor dem Sofa aus: das gestickte Deckchen für Omi, das selbst gehäkelte Nadelkissen für Mutti, die Zigaretten für Vati und die fantasievoll zusammengebastelten Streicholzschachteln für den Opi. Selbst an eine Kerze hat sie gedacht. Flink schiebt sie die Wolldecke vom Sofa. Dann nimmt sie aus dem Puppenbett das Nachthemd, das ihre Lieblingsoma für sie genäht hatte, das aus dem schönen, gelb glänzenden Stoff mit den orangefarbenen Sternchen drauf, schlüpft hinein und setzt sich den eigens für dieses Weihnachtsfest aus Goldpapier gebastelten Sternenkranz, den sie auch dort versteckt hatte, auf den Kopf. Dann schaltet sie die Lichterkette am Weihnachtsbaum auf der Kommode an. Schließlich hat sie genau aufgepasst, als der Vater sie ausprobierte. Ein bisschen aufgeregt zündet sie die Kerze auf dem Tisch an. Hm, das darf sie eigentlich noch nicht. Bloß nicht die Finger verbrennen!

Sie guckt sich alles noch einmal genau an. Gut sieht es aus. Alles ist, wie sie es sich ausgemalt hatte. Und es ist, als beobachtet auch das Schränkchen mit dem Radio und dem Plattenspieler von seiner Zimmerecke aus das rätselhafte Treiben. Siglinde findet, dass diese Musiktruhe ein Gesicht hat mit zwei kleinen, runden Augen und einer Reihe Zähnen. Den Adventskranz mit den roten Kerzen und Schleifen hat sie ihm wie eine Krone oben auf den Deckel gesetzt. Die rot-grün-gelbe Stehlampe hüllt den kleinen Raum in gemütliches Dämmerlicht. Die drei Sesselchen, die immer so leicht umkippen, stehen ordentlich um den liebevoll dekorierten Tisch.

Nun öffnet sie die Tür einen Spalt und ruft mit Wimmerstimme:

„Mutti, Vati, könnt ihr mal kommen?”

Wie der Wind ist das Mädchen zurück auf dem Sofa. Sie kniet sich mitten drauf und breitet die Arme aus – jetzt stehen die Eltern und Großeltern auf dem Flur, blicken durch die Tür in das schlichte, schummerige Zimmerchen - ... Da beginnt die Kleine zu singen:

„Vom Himmel hoch, da komm ich her“

Und da stehen sie, die Großen, können nicht fassen, was sich ihnen da bietet, und weinen die schönsten Weihnachts-Tränen, die ihnen jemals aus den Augen sickerten.

Elke Lischke



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