Literaturkritiker Volker Weidermann: Bücher müssen begeistern

„Literaturkritik braucht subjektive Begeisterung“, Volker Weidermann stand Rede und Antwort in Dirk Sackis Bücherstube.

Foto: Sura

Schönberg (aks) – In der vhs-reihe „Menschen rund ums Buch“ war diesmal der Literaturkritiker und Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) Volker Weidermann bei Dirk Sackis auf die Couch eingeladen. Auf Sackis’ augenzwinkerndes Bekenntnis, er würde gar keine FAZ lesen, raufte sich Weidermann die Haare: „Das geht ja gut los!“

Seinen launigen Prolog beginnt Weidermann mit Auszügen aus seiner Kurzbiografie Kurt Tucholskys, der als fleißiger Autor selbst 500 Buchkritiken schrieb. Auf die Frage, was ein gutes Buch ist, antwortet Tucholsky, dass es einen Unterschied gibt zwischen „einem Text, der fliegt und einem, der vom Bodenpersonal verfasst ist.“

So bekommt auch der bedeutendste Vertreter des modernen Romans „Ulysses“ James Joyce von Tucholsky sein Fett weg: „Man ertrinkt im Staub, weil alles gesagt ist.“ Er hält das Werk in den meisten Teilen für schlicht langweilig, nur der innere Monolog bringt ein bisschen Spannung. Franz Kafkas Werk dagegen lehrt ihn das eigene Staunen, das er ebenso thematisiert wie das Eingeständnis des Nicht-Wissens. Tucholsky schweigt vor Kafkas großem, „unheimlichen“ Werk: „Stumm vor dem Erhabenen“, und verzichtet auf die Deutung.

Weidermann ist ganz in seinem Element und seine Antwort darauf, was ein gutes Buch ist, fällt kurz und knapp aus, kommt aber von Herzen: Langweilig dürfen Bücher nicht sein, nicht verlogen oder künstlich konstruiert. Kritik ist immer subjektiv und hat keinen Anspruch auf Objektivität, davon ist er überzeugt. Prompt fassen die Zuhörer nach und wollen es genauer wissen. So versucht er noch einmal eine sachliche Erklärung und holt aus:

„Heute ist Kritik abgewogen und gelehrt, leserferner in den Sphären exklusiven Wissens und auch „mutloser“. Dabei brauche das „objektive Wissen die subjektive Begeisterung“. Auch wenn verschiedene Herangehensweisen an Literaturkritik möglich seien, gäbe es doch keine Maßstäbe wie Vorbildung, Sachkenntnis oder Schreibtechniken, die darüber entscheiden was ein gutes Buch ausmacht. „Das ist alles schön und gut, aber der Leser will vor allem unterhalten sein“. Die Lektüre muss spannend, lebendig, authentisch sein – das ist Weidermanns „Lebendigkeits-Modus“. Kommt ein Text kunsthandwerklich konstruiert daher, ist schon „zu viel Pulver verschossen“. Die Biografie des Autors interessiert ihn und beeinflusst seine Kritik. Er hält die reine Literatur für ehrenwert, will sie aber nicht vom Autor trennen: „Das was am Lesen Spaß macht ist die Biografie des Autors, das macht das Werk interessanter“. Nur bei sehr jungen Autoren spielt die Vita für ihn noch keine große Rolle.

Das Publikum in der voll besetzten Buchhandlung birst vor Spannung und dann fällt der Name Reich-Ranicki – lang hat es nicht gedauert. Weidermann gibt unumwunden zu, dass dieser das „Haupt-Vorbild“ für ihn war – wichtiger als seine Uni-Professoren. Er hat ihn als junger Mann persönlich in der FAZ-Redaktion kennen gelernt. „Klarheit, keine Fremdworte, leidenschaftliches Urteil“, so lautete das Credo Reich-Ranickis für die Literaturkritik, der selbst über Jahrzehnte die Literaturredaktion der FAZ leitete. Sein Anliegen war es, über die Fachwelt hinaus für Literatur zu begeistern. „Kritik ist nichts, wenn sie nicht aus aufrichtiger Liebe speist“, sagte Claudius Seidl, auch für das Ressort Literatur der FAS zuständig, einmal zu Reich-Ranicki.

Der Literaturpapst ist tot und nie wieder wird es einen Literaturkritiker geben, der so viel Macht hatte, der gelobt, aber auch unerbittlich kritisiert hat, der dafür gehasst und diffamiert wurde. Historisch ist der Streit mit Martin Walser, der Reich-Ranicki als Teil eines unredlichen Literaturbetriebs im „Tod eines Kritikers“ ein diffamierendes Denkmal setzt. Auch mit Heinrich Böll war Reich-Ranicki nicht zimperlich und so zerbrach die jahrelange Freundschaft. Der Literaturbetrieb ist klein – man kennt sich! Das ist auch der Grund warum es unter Kollegen zu wenig Austausch und wenig öffentliche Diskussionen gibt. Volker Weidermann bedauert das.

Nach welchen Kriterien der 45-Jährige Kritiker Bücher liest, hat nichts mit Spontanität zu tun, sondern klingt nach harter Arbeit. Da muss er sich hin und wieder den „charmanten Avancen“ der Verlags-Pressedamen, die mit Neuerscheinungen von den Verlagen geschickt werden, erwehren oder muss, trotz glänzender Autoren-Abendessen „mit korrumpierender Wirkung“ in illustren Kreisen, wieder zuhause, einen klaren und vor allem unabhängigen Kopf bewahren. Sein Thema ist die deutsche Gegenwartsliteratur und er bestellt für seine kritische Lektüre Bücher, die objektiv und subjektiv wichtig sind. Debüts findet er besonders interessant, vertraut auch oft den Lektoren der Verlage, wenn diese ihm ein Werk empfehlen, das er vielleicht selbst übersehen hat. Meister der Empfehlung war Michael Krüger vom Hanser Verlag, der jüngst von Gauck persönlich verabschiedet wurde, er schrieb noch „persönliche“ Briefe, erzählt Weidermann, der nicht abstreitet, dass massive wirtschaftliche Interessen der Verlage durchaus auch „sehr unsubtilen“ Druck auf den Literaturkritiker ausüben würden. Er nennt den Namen Suhrkamp und grinst. Dass er sich Kritk leisten kann, verdankt er der Unabhängigkeit der FAZ und einem freien Journalismus, der keinen Zwängen unterliegt.

In der Regel schreibt er einen Text pro Woche, verrät er über seine Arbeit, gemeinsam mit sieben weiteren Redakteuren der FAS, delegieren kann er nicht. Schnell lesen mittels bestimmter Lesetechniken lehnt er ab, sonst gingen Details verloren und der Text sei nicht mehr „zu fühlen“. Er liest am liebsten abends zuhause, wo ihn 3.000 Bücher umgeben, in der Redaktion ist es schwierig wegen des Tagesgeschäfts. E-Books hält er für praktisch, weil man Textstellen markieren kann, begeistern können sie ihn aber nicht. Auf die Frage aus dem Publikum, wie man Bestseller macht, überlegt er erstmal. Früher Elke Heidenreich und heute der „wegwerffreudige“ Denis Scheck, die könnten schon das Verkaufsranking bei Amazon beeinflussen – oder eben eine positive Besprechung in der „Brigitte“, wie schon Klaus Wagenbach bemerkte. Ansonsten glaubt er aber nicht daran, dass man Bestseller planen kann mit Marktforschung, Werbung und positiver Kritik.

Zum Schluss liest er auf Wunsch des Publikums aus seinem noch nicht veröffentlichten Roman „Ostende 1936“ eine Passage vor, in der es um die Kritik am Vorabdruck in der Pariser Exilzeitung des „Mephisto“ von Klaus Mann geht – einem schönen Exempel für schriftstellerische Ambitionen und Eitelkeiten, Freud und Leid der Kritik.



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