Zeitzeuge Thomas Raufeisen – „Mein Vater war ein Spion des Ministeriums für Staatssicherheit“ Mehr politische Bildung gefordert

Die 70er Jahre in Hannover waren für Thomas Raufeisen prägend. Mit 16 Jahren aus diesem Leben gerissen zu werden, hat Spuren hinterlassen.Fotos: Judith Ulbricht

Kelkheim (ju) – Es ist wichtig, dass junge Menschen heutzutage etwas über das zweigeteilte Deutschland, den Kalten Krieg und die Spionage der Staatssicherheit der DDR (kurz: Stasi) lernen, weil diese Themen nicht nur ein essenzieller Teil der deutschen und internationalen Geschichte sind, sondern auch wertvolle Lehren für die Gegenwart und Zukunft bieten.

Kalter Krieg und Bespitzelung

Die Teilung Deutschlands in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg und der Konflikt zwischen den beiden politischen Systemen – Demokratie und Sozialismus – prägen bis heute die Gesellschaft. Die Unterschiede zwischen den ehemaligen Bundesländern in Ost- und Westdeutschland, sei es wirtschaftlich, sozial oder kulturell, lassen sich nur verstehen, wenn man die Ursprünge in der Nachkriegszeit kennt.

Der Kalte Krieg und die Stasi sind Mahnmale dafür, was passiert, wenn autoritäre Systeme individuelle Freiheiten unterdrücken. Die Überwachung durch die Stasi zeigt, wie gefährlich ein Staat werden kann, wenn er die Kontrolle über seine Bürgerinnen und Bürger übernimmt. Die Methoden der Stasi – von Bespitzelung über Desinformation bis hin zur Zersetzung von Oppositionellen – bieten eine erschreckende Parallele zu aktuellen Themen wie staatlicher Überwachung, Datenschutz und der Manipulation durch soziale Medien. Damit junge Menschen lernen, kritisch zu denken, sensibilisiert werden für die Bedeutung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Gefahren von Machtmissbrauch erkennen, braucht es Zeitzeugen, Menschen, die am eigenen Leib erlebt haben, wie autoritäre Systeme Gewalt über ihr Leben erlangten und darüber berichten können und wollen. An der Eichendorffschule (EDS) ist es schon lange Tradition, Menschen einzuladen, die über Erlebtes, sei es im 2. Weltkrieg oder unter der Knute des DDR-Regimes, berichten und mahnende Worte an die Schülerinnen und Schüler richten.

Wenn der Vater ein Spion ist …

Einer von ihnen ist Thomas Raufeisen und die Geschichte, die er für die Schüler der Q3 dabei hatte, kann man eigentlich nicht glauben, wenn die jungen Menschen sie nicht mit eigenen Ohren gehört hätten.

Raufeisen, der 1962 in Hannover geboren wurde, verbrachte eine unbeschwerte Kindheit und Jugend in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Gerade 16 Jahre alt, hatte er den Weg zum Abitur beschritten, genoss die Zeit an seiner Schule und mit seinen Klassenkameraden. Ein echter Teenager eben – mit den damaligen Vorstellungen und dem Bewusstsein, das tun zu können, was er tun möchte. Sein Vater, Armin Raufeisen, arbeitete als Geophysiker bei der Preussag und war gleichzeitig als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR tätig. Anfang der 50er Jahre war er von der Stasi in Ahlbeck angeworben worden, stand hinter der DDR (Deutsche Demokratische Republik), glaubte an das „bessere“ System. Die Familie ahnte nichts von dem Doppelleben des Familienoberhauptes. Im Januar 1979, nach der Überläuferaktion des MfS-Oberleutnants Werner Stiller, drohte Armin Raufeisen die Enttarnung und Verhaftung in der Bundesrepublik Deutschland. Um dem zu entgehen, entschied er sich, mit seiner Familie in die DDR überzusiedeln, ohne seine Söhne Thomas und Michael über die wahren Gründe zu informieren.

Ich will hier nicht leben!

In einem Gästehaus der Staatssicherheit in Eichwalde, vor den Toren Berlins, kommt die Familie unter, hier eröffnet der Vater seinen Söhnen die Wahrheit und erklärt, dass ihr Leben ab sofort in dem sozialistischen Staat stattfinden wird. „Und da bin ich reingeraten in die Mühlen des Kalten Krieges“, erinnert sich Raufeisen. Er konnte sich nicht vorstellen, in diesem Land zu leben, hat er doch durch diverse Besuche bei den Großeltern in Ahlbeck gesehen, dass das Leben hier ein ganz anderes ist. „In der DDR war alles grauer, trauriger, alles sah ab- und runtergewirtschaftet aus“, schildert Raufeisen den Schülern seine Erinnerungen an die damalige DDR. Die Stasi hat ein Auge auf die Familie. Thomas Raufeisen und sein älterer Bruder Michael lehnen die neue Situation kategorisch ab und strebten die Rückkehr in die Bundesrepublik an. Michael, bereits volljährig, verweigerte die Annahme der DDR-Staatsbürgerschaft und durfte im Dezember 1979 in die BRD zurückkehren. Thomas hingegen, noch minderjährig, musste bei seinen Eltern bleiben. Dem Vater wird indes klar, in was für eine prekäre Situation er seine Familie gebracht hat. Der „Kundschafter des Friedens“ , wie er sich selbst nach der Flucht bezeichnete, stellt auf einmal das System in Frage. Doch das Vertrauen in ihn ist erschüttert, Raufeisen Junior fassungslos.

Flucht, Verhaftung und Gefängnis

In den folgenden Jahren unternahm die Familie mehrere Fluchtversuche, unter anderem über Ungarn und den Checkpoint Charlie mit Hilfe der CIA, die jedoch scheiterten. Im September 1981 wurden Thomas und seine Eltern bei einem erneuten Fluchtversuch verhaftet. Thomas wurde in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen gebracht und später wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts” und „landesverräterischer Agententätigkeit” zu drei Jahren Haft verurteilt. Seine Mutter bekommt sieben Jahre, sein Vater lebenslänglich. Raufeisen verbüßte seine Strafe im Gefängnis Bautzen II und hofft darauf, dass der Westen aktiv wird. Doch nichts passiert. Er muss die gesamten drei Jahre absitzen. Nach seiner Entlassung im September 1984 erhielt er die Ausreisegenehmigung und kehrte nach Hannover zurück. Auch seine Mutter verbüßt die gesamte Haftzeit. Seine Vater erlebt das Ende des DDR-Regimes nicht mehr. Er verstirbt 1987 unter ungeklärten Umständen im Gefängnis.

Das Leben danach

Zurück in der Bundesrepublik, holte Thomas Raufeisen 1988 sein Abitur nach und begann ein Studium im Vermessungswesen. 1998 zog er nach Berlin und engagierte sich ab 2003 als freiberuflicher Referent in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Seit 2011 tritt er als Zeitzeuge an Schulen und Bildungseinrichtungen auf, um über seine Erfahrungen zu berichten. Seine autobiografischen Werke, darunter „Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei” und „Ich wurde in die DDR entführt. Von meinem Vater. Er war Spion.”, bieten einen tiefen Einblick in sein bewegtes Leben und die Auswirkungen der Spionagetätigkeit seines Vaters auf die Familie.

„Viele Dinge, die derzeit passieren, erinnern mich an die damalige Zeit. Themen wie Überwachung, Bespitzelung, Spionage werden wieder aktuell, die Sozialen Medien tragen zur Verbreitung von Falschinformationen bei. All dies gefährdet eine Demokratie, deswegen ist Aufklärung und Geschichtswissen elementar wichtig“, mahnt Raufeisen zum Abschluss seines Vortrages (siehe Kasten). Wenn man bedenkt, dass unser Bildungssystem bis heute das Kapitel ’Zweigeteiltes Deutschland’ in bestimmten Schulzweigen ausblendet, dann muss man sich nicht wundern, dass bestimmte Kräfte die Chance erhalten, gerade bei den Jüngeren mit Parolen zu punkten.

Zusammenfassend sind die Erfahrungen des geteilten Deutschlands und des Kalten Krieges nicht nur ein Kapitel in den Geschichtsbüchern, sondern auch eine Mahnung und Inspiration für die Gestaltung unserer heutigen und zukünftigen Gesellschaft.

Die ostdeutschen Landesschülervertretungen fordern mehr politische Bildung in den Schulen, um extremistischen Tendenzen und Populismus unter jungen Menschen entgegenzuwirken. In einem Positionspapier kritisieren sie, dass Schülerinnen und Schüler derzeit unzureichend auf Desinformation und populistische Narrative vorbereitet werden, was den Rechtsruck bei den vergangenen Wahlen mitverursache.

Besonders besorgt zeigen sie sich über eine zunehmende antieuropäische Haltung bei Jugendlichen, die sie auf fehlendes Wissen über die Bedeutung Europas als Friedens- und Wohlstandsgarant zurückführen. Sie betonen, dass Schulen zentrale Orte sein müssten, um Demokratie durch praktische Ansätze wie Planspiele, Debatten und Schüleraustausche erfahrbar zu machen. Auch eine bessere Medienbildung sei notwendig, damit junge Menschen Informationen aus sozialen Netzwerken kritisch bewerten könnten.

Die Schülervertretungen appellieren eindringlich an die Bildungspolitik zu handeln, da die Entscheidungen von heute die Gesellschaft von morgen prägen werden.

Werner Stiller – der Überläufer

Werner Stiller war ein bedeutender Überläufer und Spion während des Kalten Krieges. Seine Geschichte spielt eine zentrale Rolle in der Spionagegeschichte zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Hier sind die wichtigsten Punkte zu seinem Leben:

Frühes Leben und Ausbildung

• Geboren: 24. August 1947 in Zeitz, Sachsen-Anhalt, DDR.

• Stiller wuchs in einfachen Verhältnissen auf und begann zunächst ein Studium der Physik.

• 1969 wechselte er zur Hochschule der DDR-Staatssicherheit und wurde zum Spionageoffizier ausgebildet.

Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS)

• Werner Stiller war ein hochrangiger Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR.

• Er arbeitete in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), die für Auslandsspionage verantwortlich war.

• Stiller war in der Abteilung für die Überwachung westdeutscher Rüstungsprojekte tätig und hatte Zugang zu sensiblen Informationen.

Überlauf in den Westen

• Am 18. Januar 1979 floh Werner Stiller in die Bundesrepublik Deutschland.

• Er nahm geheime Dokumente und Informationen über DDR-Agenten mit, was die DDR-Spionage massiv schwächte.

• Stillers Überlauf war einer der schwersten Schläge für die HVA und führte zur Enttarnung zahlreicher DDR-Spione in der BRD.

Leben nach der Flucht

• In der Bundesrepublik arbeitete er für den Bundesnachrichtendienst (BND) und half, DDR-Spionageaktivitäten zu durchkreuzen.

• Werner Stiller erhielt eine neue Identität und lebte abseits der Öffentlichkeit, da er in der DDR als Verräter galt.

• Nach der Wiedervereinigung trat er in die Öffentlichkeit und schrieb das Buch „Im Zentrum der Spionage“, in dem er seine Erfahrungen schilderte.

Spätere Jahre

• Nach der deutschen Wiedervereinigung zog Stiller in die USA und arbeitete dort als Investmentbanker.

• Er kehrte später nach Europa zurück und lebte in Budapest.

• Werner Stiller starb am 20. Dezember 2016 in Budapest.

Bedeutung und Vermächtnis

Werner Stillers Überlauf markierte einen Wendepunkt im Kalten Krieg, da er die DDR-Auslandsspionage nachhaltig schwächte. Seine Enthüllungen deckten nicht nur Netzwerke auf, sondern zeigten auch die inneren Mechanismen des MfS und der HVA.



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