Friedrichsdorf (fw). Er ist der Entdecker des Gletscherflohs und auch sonst ein anerkannter Wissenschaftler. Edouard Désor erblickte vor 210 Jahren in der Hugenottenstadt das Licht der Welt.
Am 13. Februar 1811 wurde einer der bedeutendsten Söhne Friedrichsdorfs, Pierre Jean Edouard Désor, geboren. Da er nur in jungen Jahren hier lebte, ist er in seiner Heimatstadt nahezu vergessen. Lediglich eine Linde, ein Gedenkstein und neuerdings eine Straße am Sportpark erinnern an den Universalgelehrten. In Fachkreisen allerdings, bei Geologen, Paläontologen und Prähistorikern, besitzt Désor heute noch einen guten Ruf. Als Ausdruck seiner wissenschaftlichen Bedeutung und der Breite seiner Forschungstätigkeit tragen unterschiedlichste Objekte seinen Namen: Nach ihm sind ein See und ein 425 Meter hoher Berg im heutigen Nationalpark Isle Royale in Michigan (USA) benannt. Neben einer ausgestorbenen Seeigelart Desorella wurde ihm zu Ehren auch der von ihm entdeckte Gletscherfloh desoria glacialis (oder desoria saltans) getauft.
Der begeisterte Bergsteiger machte sich am 28. August 1841 mit seiner Seilschaft auf den Weg, um eines der höchsten Bergmassive der Alpen, die 4158 Meter hohe Jungfrau, zu besteigen, die erst dritte Expedition, der diese Klettertour gelang. In einem kleinen Büchlein beschrieb der Friedrichsdorfer, wie die Freunde den Gipfel erreichten. Am Ziel gönnte man sich ein Glas Wein und hinterließ als Zeichen ihrer Anwesenheit einen Bergstock, „und ich war bereit, mein Schnupftuch zu opfern und es als Fähnlein zu befestigen“.
Es spricht für Désors Forscherdrang, dabei auf die Besonderheiten der Natur zu achten und kleine springende, tiefschwarze Punkte zu bemerken. Der Desoria saltans, so der wissenschaftliche Name, wird nur rund zwei Millimeter groß. Flüchtet er, so nutzt er seine Sprunggabel, was ihm seinen Trivialnamen einbrachte. Dabei gehört das Tierchen gar nicht zu den Flöhen, sondern zu den Collembolen, den Springschwänzen. Zum Überleben in eisiger Kälte nutzt er einen besonderen Trick. Mit Hilfe unterschiedlicher Zucker produziert der Gletscherfloh eine Art alkoholisches Frostschutzmittel, das ihm ein Durchhalten bei bis 15 Grad Celsius unter Null ermöglicht. So kann „desoria“, wie der Entdecker ihn in seinen Schriften kurz nennt, mehrere Jahre alt werden. Auf dem Gletscher, im Spaltensystem des Eises oder in der Grenzschicht zwischen Eis und aufliegender Schneedecke ernähret er sich von Algen und angewehtem Blütenstaub.
Ein freiheitlicher Geist
Désor führte im 19. Jahrhundert das Leben eines Universalgelehrten. Paläontologen nutzen noch immer sein zweibändiges Tafelwerk über versteinerte Seeigel, und der Vorgeschichte haben seine Studien über Pfahlbauten und die keltische Eisenzeit neue Wege eröffnet. Eine beachtliche wissenschaftliche Hinterlassenschaft, vielseitig und erstaunlich dazu, da Désor seine Erkenntnisse am Ort in den Alpen, in Skandinavien, den USA und der Sahara gewann und keines dieser Fachgebiete im eigentlichen Sinne studierte. Dabei hatte er sich zunächst den Rechtswissenschaften gewidmet, ehe er, vom freiheitlichen Geist erfasst, 1832 am Hambacher Fest teilnahm und darauf, um polizeilichen Restriktionen zu entgehen, Deutschland in Richtung Paris verließ. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für die Geologie und auch die Liebe. Als er für den Vater der Auserwählten nicht standesgemäß erschien, wich er in die Schweiz aus, wo es zur lebensprägenden Begegnung mit dem damals führenden Paläontologen Louis Agassiz (1807-1873) kam. Für den Friedrichsdorfer war Agassiz der richtige intellektuelle Antreiber, während dem jungen, ungeduldigen Professor kein besserer Mann zur Seite stehen konnte. Sein Fleiß und Organisationstalent und vor allem eine glänzende Beobachtungsgabe schufen das nötige Fundament für die „neuen Gletschertheorien“, wie es Désor in seinem 1844 veröffentlichten 750-Seiten-Werk „Agassiz und seiner Freunde geologische Alpenreisen“ nicht müde wurde zu betonen. Dafür campierten sie sogar wochenlang unter einem notdürftig geschützten Felsen, scherzhaft „Hôtel des Neuchâtelois“ getauft, direkt am Unteraargletscher. Nach sieben Sommern und einem Winter in den Schweizer Zentralalpen waren viele gängige Annahmen widerlegt und Agassiz unbestritten als „Vater der Eiszeiten“ anerkannt. Lange Reihen an Temperaturmessungen zeigten zur allgemeinen Überraschung relativ geringe Durchschnittswerte, selbst im Winter nur knapp unter dem Gefrierpunkt, was rasches Schmelzen und Wasser im Eis erklärt. Aber nicht das treibt einen Gletscher an, oder gar „Erdwärme“, wie lange geglaubt, sondern allein der Eigendruck, wie Agassiz und Désor feststellten. Fällt viel Schnee, wandert das Eis rascher oder zieht sich in niederschlagsarmen Jahren eben zurück. Für die aktuelle Klimadebatte heißt das: Weniger Hitze, als vielmehr Trockenheit lässt die Gletscher abtauen. Durch den Beweis der Eigengesetzlichkeit von Gletschern hatten Désor und Kollegen einen wichtigen Beitrag für das Verständnis der Erde als ein dynamisches Gebilde erbracht, was dann eben auch die chronologische Entzifferung erlaubt.
Als er gichtkrank am 23. Februar 1882 in seiner Winterresidenz Nizza starb, flossen Vermögen und wissenschaftlicher Nachlass Neuchâtel zu. Doch vergaß er seine Heimat nicht. 10 000 Mark erhielt die Kleinkinderschulstiftung (heute Evangelischer Kindergarten) für den Kauf eines Hauses und die Stadt Teile seiner Privatbibliothek, Diplome und Ölgemälde. Künftig erinnert auch das sich gerade im Umbau befindliche städtische Museum, das Philipp-Reis-Haus, an den Friedrichsdorfer Universalgelehrten und zeigt ein vergrößertes Modell des Gletscherflohs.