Ein Spaziergang durchs Jahr mit Kompositionen und Gedichten

Oberhöchstadt (pf) – Was für ein wunderschönes Weihnachtsgeschenk! Fanny Hensels Klavierzyklus „Das Jahr – zwölf Charakterstücke für das Fortepiano“, den die als Pianistin wie Komponistin ebenso wie ihr Bruder hochbegabte Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy 1841 ihrem Ehemann, dem Kunstmaler Wilhelm Hensel, unter den Weihnachtsbaum legte, beglückte Samstagabend im Festsaal des Altkönig-Stifts die Konzertbesucher. Der Pianist Wolfgang Nieß hatte sein Publikum zu einem musikalisch-literarischen Spaziergang durchs Jahr eingeladen und sich als Texte dazu Erich Kästners Gedichtzyklus „Die 13 Monate“ ausgesucht.

Kästner kannte Fanny Hensels Klavierstücke nicht. Sie wurden als Autograph mit den Originalzeichnungen Wilhelm Hensels erst 1993 zufällig von der Musikwissenschaftlerin Beatrix Borchard bei einem Nachfahren der Familie Mendelssohn in Baden-Baden entdeckt, der gar nicht geahnt hatte, was für einen Schatz er besaß. Dennoch fügten sich die nachdenklich-heiteren Gedichte, die Kästner als Auftragsarbeit schrieb und die von Dezember 1952 bis Dezember 1953 als monatliche Serie in der Schweizer Illustrierten Zeitung erschienen, und die gut ein Jahrhundert früher komponierten Klavierstücke zu einem wunderbaren Gesamtkunstwerk zusammen.

Um nicht nur den Ohren, sondern auch den Augen Künstlerisches zu bieten, hatte Sabina Nieß, die Frau des Pianisten und Rezitators, aus den heiteren Zeichnungen von Richard Seewald zu den Kästner-Gedichten und den poetischen Gemälden von Wilhelm Hensel, mit denen dieser zusammen mit ein paar Verszeilen jeweils die Titelseiten der Monats-Kompositionen seiner Frau geschmückt hatte, eine Dia-Schau zusammengestellt. Und so konnte das Publikum einfach nur genießen: Kästners Gedichte, Fanny Hensels Kompositionen und dazu die jeweiligen Zeichnungen, Gemälde und Versanmerkungen des von seiner Frau so phantasievoll beschenkten Wilhelm Hensel.

Während bei Erich Kästner im Januar das Jahr noch in der Wiege liegt, lässt Fanny Hensels Komposition schon von den kommenden Monaten träumen: Mit einem energiegeladenen Scherzo vom bunten Karneval im Februar, mit einer Choralphantasie über „Christ ist erstanden“ vom Osterfest im März, dem in einem Capriccioso musikalisch nachempfundenen launischen Wetter im April, mit einem Frühlingslied zwischen Sehnsucht und Leidenschaft vom Mai, mit einer Serenade von einer lauen Sommernacht im Juni, mit einem elegischen Larghetto von der Hitze im Juli, mit einem kraftvollen Marsch von einem bäuerliches Erntefest im August, mit einem heiter dahinfließenden Fluss vom September, mit Hörnerklang und stürmischem Wind von Jagd und Wetterkapriolen im Oktober, mit Seufzermotiven von Klageliedern im November und mit dem Weihnachtschoral „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ vom Dezember. Erich Kästners Spaziergang durch das Jahr erweckt manchmal ähnliche, manchmal ganz andere Assoziationen, malt mit Worten Bilder, die sein Illustrator Richard Seewald treffend umsetzte. Während die Komponistin sich in ihrem Epilog von Johann Sebastian Bachs „Das alte Jahr vergangen ist“ aus der Matthäuspassion inspirieren ließ, erträumte sich Kästner in seinem Gedicht „Der 13 Monat“ die schönsten Aspekte jeden Monats, nur um sich gleich dafür zu entschuldigen:

„Verzeih, daß wir so kühn sind, dich zu schildern.

Der Schleier weht. Dein Antlitz bleibt verhüllt.

Man macht, wir wissen‘s, aus zwölf alten

Bildern kein neues Bild.

Drum schaff dich selbst! Aus unerhörten

Tönen!

Aus Farben, die kein Regenbogen zeigt!

Plündre den Schatz des ungeschehen Schönen!

Du schweigst? Er schweigt.

Es tickt die Zeit. Das Jahr dreht sich im Kreise.

Und werden kann nur, was schon immer war.

Geduld, mein Herz. Im Kreise geht die Reise.

Und dem Dezember folgt der Januar.“

Das Publikum ließ sich von Wolfgang Nieß, der ebenso virtuos wie einfühlsam Kompositionen und Gedichte vortrug, gerne auf den Spaziergang durch die Jahreszeiten mitnehmen und verzaubern, wie der begeisterte Schlussapplaus und vereinzelte Bravorufe bewiesen. Und Stiftsdirektorin Thekla Thiede-Werner nutzte die Gelegenheit, den Pianisten gleich fürs kommende Jahr einzuladen, dann zu einem Konzertprogramm im oberen Foyer, denn während der Umbauarbeiten in Küche und Speiseräumen steht der Festsaal nicht zur Verfügung.



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