Überirdisch! – Fazil Say konzertiert mit jungen Spitzentalenten

„Überirdisch“ – Konzert mit Fazıl Say in der Johanniskirche: v.l.n.r.: Xi Zhai, Fazıl Say (Klavier), Anastasia Kobekina (Violoncello) Fotos: Andreas Malkmus

Kronberg (die) – Überirdisch – das Motto des Konzertes Nummer 20 des Kronberg Academy Festivals 2017 – bedeutete zunächst 39 Kilometer freier Fall, vom Weltraum aus, direkt in die bis auf den letzten Platz ausverkaufte Johanniskirche am Tag der Deutschen Einheit! Mit der Musik des großen Meisters Fazil Say war das möglich. Mit Space Jump op. 46, komponiert von dem 1970 geborenen Pianisten und Komponisten, erstmalig aufgeführt am 11. September 2013, greift Say das spektakuläre Medienereignis aus dem Jahr 2012 auf. Der freie Fall des Österreichers Felix Baumgartner, der Weltrekord im höchsten Absprungpunkt eines Fallschirmspringers, dürfte vielen Menschen noch in Erinnerung sein. Say verarbeitete dieses Ereignis zu einem Klaviertrio, weil er davon derart fasziniert war, dass er seine Emotionen, die er als Zuschauer empfunden hat, zum Ausdruck bringen wollte. Den Stratosphärenfall bot Say gemeinsam mit dem 1985 in Tel Aviv geborenen Geiger Itamar Zorman und dem 1992 geborenen Cellisten Ivan Karizna aus Weißrussland dar. Eine voluminöse Klangwelt erschloss sich dabei dem Zuhörer. Nach einem langsamen, wiegenden Beginn, bei der man die Nervosität des Springenden, das melodische „Zittern“, eine Wechselwirkung der Gefühle förmlich spüren konnte, folgte der rhythmisch markante Adrenalinrausch während des Sprungs, die unfassbare Überschallgeschwindigkeit im freien Fall. Das Ende stellte sich versöhnlich dar, eher im Charakter eines stolzen Andante, das Frieden, Stolz und gleichsam ein „Angekommensein“ vermittelte. Dabei überzeugten die jungen Stars durch technische Brillanz und wahrhaft meisterlich musikalisch erlebbar gemachten Stimmungen.

Nicht von dieser Welt, nämlich mit einem Märchen, ging es weiter mit Pohádka (Version 3) von Leoš Janacek (1854-1928). Pohádka bedeutet Märchen und es erzählt musikalisch über die Liebe des Zarensohns Ivan, der nach einigen bestandenen Abenteuern die Liebe seines Lebens, Marija, findet. Nicht so sehr die Geschichte, mehr die Persönlichkeiten sowie die Dramatik der Liebesbeziehung kommt in diesem Werk für Cello und Klavier zum Ausdruck. Say am Klavier als Marija und die zauberhafte Cellovirtuosin, die 1994 in Russland geborene Anastasia Kobekina als Ivan, überzeugten trotz vertauschter Geschlechterrollen. Die innere Freude am fein austarierten Spiel war der jungen Künstlerin anzumerken, insbesondere im zweiten Teil, in dem der Cello – Part immer mehr die musikalische Führung übernimmt und das zunächst dominante Klavier zunehmend in den Hintergrund drängt. Sodann widmete sich die 1996 in Irland geborene und hochkarätig ausgezeichnete Mairéad Hickey einem der anspruchsvollsten Werke der virtuosen Violinliteratur, der Tzigane für Violine und Klavier von Maurice Ravel (1875-1937). Der erste Teil, eine Improvisation über „Zigeuner“-Themen, ließ den Zuhörern den Atem stocken. Virtuos und ebenfalls überirdisch meisterte Hickey die anspruchsvollen Passagen, bis Say im zweiten Teil dann die sehr klangfarbenreiche Begleitung lieferte, die der Geige zu noch mehr Prunk und Gloria verhalf.

Das Finale und zugleich der Höhepunkt des Abends stellte die deutsche Erstaufführung des von Fazil Say komponierten und im Sommer 2017 uraufgeführten Werkes „Yürüyen Kök. Hommage à Atatürk“ für Klavierquintett op. 72b dar.

Say bekennt sich nicht nur zur Musik, sondern auch zur Demokratie und den liberalen Traditionen der Türkei. Er ist deshalb dort auch als Bürgerrechtler bekannt und aus diesem Engagement heraus hat er das genannte Werk komponiert. Der Untertitel des Werkes lautet „Atatürks Mobiler Pavillon“ und es nimmt Bezug auf eine historische Begebenheit, wonach Atatürk sich in den 1920er-Jahren unter einer Platane ein Haus bauen ließ. Ein Ast der Platane drohte im Laufe der Zeit ein Fenster des Hauses zu beschädigen. Anstatt den Ast zu entfernen, ließ Atatürk das komplette Haus unter immensem Aufwand versetzen. Eine unglaubliche, aber wahre Geschichte, die zeigt, dass Atatürk eigentlich seiner Zeit voraus ein umweltbewusster Staatsmann war. Naturverbundenheit, Respekt vor der Natur sind auch Dinge, die Say bewegen und die er zu einem klanglich recht üppigen Werk weiterverarbeitet hat. Der große Pianist mit den herausragenden Musikern, Itamar Zorman und Mairéad Hickey in den Violinstimmen, der 1995 in London geborene Timothy Ridout an der Viola und wiederum Ivan Karizna am Violoncello bildeten dabei eine perfekte Einheit. Klanglich angeführt durch das Klavier, das die jeweiligen emotionalen Veränderungen ankündigt, einleitet und die jungen Künstler gleichsam in die jeweiligen Klangwelten mitnimmt, ist für den Zuhörer die Dramatik des Hausversetzens, den Kraftakt, der dahinter steckte, erlebbar. Das Werk und damit das Konzert endete harmonisch, friedlich, man konnte die Vögel in ihrer Glückseligkeit im Ast der Platane fast zwitschern hören. Nicht enden wollender Applaus folgte und tief bewegte Zuhörer mussten sodann aus diesem überirdischen Musikgenuss erst einmal auf die Erde zurückkehren.

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