„Rechtserhaltende Gewalt“ will theologisch aufgearbeitet sein

Erfrischend anders: Der aktuelle evangelische Pfarrer in Falkenstein, Daniel Lenski (links), stellte seinen Amtsvorgänger, den heutigen Militärbischof Dr. Sigurd Rink „in einem kurzen Gespräch statt einem Monolog“ vor. Foto: Friedel

Falkenstein/Berlin (hhf) – „Wie sind Sie eigentlich Militärbischof geworden?“, fragte Daniel Lenski den sicherlich interessantesten Referenten des Jahres im „Falkensteiner Dialog“, der sich in diesem Jahr mit dem Thema „Suche Frieden und jage ihm nach“ beschäftigt. „Ich habe nicht gedient“, antwortete ihm Dr. Sigurd Rink, der selbst einmal Pfarrer in Falkenstein war, freimütig, stattdessen bekam er eines Tages einen Anruf „mit bedeutungsvoller Stimme“ und 48 Stunden Bedenkzeit. Kurz entschlossen ließ er sich vor ziemlich genau fünf Jahren auf das kirchliche Abenteuer ein: „Eine spannende Aufgabe, reizvoll – ich habe es bis heute nicht bereut!“

Im Gegenteil hat Sigurd Rink seine Erfahrungen gerade in einem Buch zusammengefasst: „Können Kriege gerecht sein? Glaube, Zweifel, Gewissen – Wie ich als Militärbischof nach Antworten suche.“ Und genau diese Antworten wollten auch die zahlreichen Zuhörer erfahren, die zum Vortrag den Saal im Ascara/Kempinski füllten.

Bevölkerung ist pazifistisch

In Deutschland sprechen sich immerhin rund 70 Prozent der Bevölkerung gegen jedweden Auslandseinsatz der Bundeswehr aus, „eine sehr pazifistische Bevölkerung“, in der das Ressort Verteidigungsministerium „nicht zum Punktesammeln geeignet“ ist. Aber auch nicht dazu, die Militärseelsorger zu kommandieren, da hat man aus der Geschichte gelernt und die Geistlichen – im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern – haben die Kirche als Vorgesetzten. Übrigens sind die meisten ganz bewusst nur für einige Jahre Militärseelsorger und wechseln dann wieder in eine normale Gemeinde.

Dass die Bundeswehr sich nach Abschaffung der Wehrpflicht gerne als ein Unternehmen darstellt (Zwischenfrage: Warum dann keine Seelsorger bei der Deutschen Bank?), hält der Militärbischof nicht für ein passendes Leitbild – im Gegensatz zu großen Banken, in deren Chefetagen es sicherlich reichlich Bedarf für geistlichen Beistand gebe, ist aber die Bundeswehr als staatliche Organisation dem Grundgesetz unterworfen, das verlangt, jedem Menschen das Recht auf freie Religionsausübung zu garantieren. In diesem Zusammenhang hatte der Referent auch eine interessante Neuigkeit im Gepäck: Die Verhandlungen laufen schon, demnächst wird die Bundeswehr wieder Militärrabbiner bekommen – 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.

Historische Wurzeln

Zog man damals noch für Gott und Vaterland in den Krieg, so hat sich dieses Selbstverständnis inzwischen weltweit geändert, doch hat die Tatsache, dass es zum preußischen Offizierswesen gehörte, protestantisch zu sein, ihre Spuren bis heute hinterlassen. „Auf einer militärethischen Konferenz in Washington war ich unter 250 Pfarrern der einzige ohne Uniform“, stellte Rink plakativ die „sehr kluge“ deutsche Variante nach 1945 vor. Im Gegensatz zu einem US-Kaplan, den nach einer Trump-kritischen Predigt ein Untersuchungsverfahren wegen Kritik am obersten Befehlshaber erwartete, hatte man in den 1950er-Jahren erkannt, dass ein Pfarrer nicht Teil der Befehlskette sein kann, weder befehlen sollte noch zu Gehorsam verpflichtet – außer natürlich seinen kirchlichen Vorgesetzten gegenüber ...

Allerdings sind die Seelsorger bei der Bundeswehr, die im Dienst auch mit Staatsgeheimnissen konfrontiert sein können, für die Dauer ihres Engagements Bundesbeamten auf Zeit und können auch ohne Uniform zu tragen etwa mit dem Rang eines Kompaniechefs verglichen werden.

Lebenskundlicher Unterricht

Der Alltag des Militärpfarrers besteht vor allem im Unterrichten – Soldaten erhalten regelmäßigen „lebenskundlichen Unterricht“, diese Reflexion einer Berufsethik ist verpflichtend. Dazu kommt natürlich die Verkündigung, also das Halten von Gottesdiensten, und schließlich die Seelsorge, die sich unter Soldat*innen erwartungsgemäß von der üblichen Problematik unterscheidet.

Freilich geht es oft auch um „normale“ familiäre Probleme, längere Abwesenheit oder häufiges Umziehen belasten manche Partnerschaft stark. Dazu kommt dann die im Grundgesetz verankerte Möglichkeit, Religion frei auszuüben, und das kann schon im Inlandsdienst schwierig werden, wenn zum Beispiel der örtliche Gemeindepfarrer wegen Schichtdienst schlecht zu erreichen ist oder die Marineangehörigen regelmäßig für sechs Monate auf See unterwegs sind. „Religionsausübung ist nicht nur akademisch“, erinnerte Sigurd Rink und führte das Beispiel in Litauen stationierter Soldaten an, die sich mangels Sprachkenntnissen mit einem Besuch dortiger Gottesdienste nicht recht versorgt fühlten, zumal Ostern vor der Tür stand.

Fraglos ist also eine seelsorgerliche Begleitung im Ausland besonders wichtig und dort kommt es dann auch zu den seltenen Konflikten, die bei Kampfhandlungen auftreten. Häufiger hingegen ist es, dass junge Leute sich mangels anderer Freizeitgestaltung dort intensiv mit dem Glauben auseinandersetzen.

Erwachsenentaufen kämen öfter vor als man denkt und natürlich die Frage, ob man denn nicht mit den Zehn Geboten in Konflikt gerät, wenn man Waffen einsetzt – da ist der Beruf eben ein anderer als zum Beispiel der des Sanitäters oder Arztes, der – auch beim Militär – Leben erhält.

„Not lehrt beten“

„Können wir denn auch in den Himmel kommen“ wurde Rink einmal gefragt und machte sich in der Literatur auf die Suche. In einer „winzigen Schrift“ von Martin Luther fand der Seelsorger Rückendeckung: „Können Kriegsleute auch im seligen Stand sein?“ Der einzelne Christenmensch, so befand der Reformator, sei sehr wohl der Bergpredigt unterworfen, die fordert, auch die andere Wange hinzuhalten, wenn man geschlagen wird. Er hat aber auch eine „Schutzverantwortung“ gegenüber der Familie, dem Dorf, dem Land, darf also für höhere Ziele auch Gewalt ausüben bis hin zum Militärdienst. Allerdings dies ausschließlich zur Verteidigung; befiehlt jemand einen Angriff, so ist der Militärdienst zu verweigern – man muss Gott eben mehr gehorchen als dem Landesherrn.

„Das hätte 500 Jahre lang sehr viel Leid vermieden“, bedauerte Rink die Unbekanntheit dieser Überlegungen, die allerdings unter der Bezeichnung „Responsibility to protect“ bis in die Ethik der UNO Eingang gefunden haben – es gibt eben Dinge, die man nicht einfach geschehen lassen darf. Im Gegensatz bereut mancher, dass gegen Völkermorde in Ruanda oder im ehemaligen Jugoslawien zu spät eingeschritten worden ist.

Ist man – wie der zum Kirchenpräsidenten gewählte frühere U-Boot-Kommandant Martin Niemöller in der Nachkriegszeit – überzeugt, dass es nach Gottes Willen keinen Krieg mehr geben darf, stellt sich die Frage, ob man als Unbeteiligter dabei tatenlos zusehen darf, in der großen Politik ebenso wie im Seelenleben des kleinen Soldaten.

Rechtserhaltende Gewalt

In dieser ethischen Frage spricht sich der Militärbischof für die Verteidigung einer „rechtserhaltenden Gewalt“ aus, angelehnt an die häufige Rechtsordnung in modernen Demokratien, die besagt, dass der Staat das Gewaltmonopol besitzt. Gerade in Ländern, die von Diktatoren befreit worden sind oder anderweitig ihre alte Regierung abgesetzt haben, ist auch heute immer wieder zu beobachten, wie schnell organisierte Kriminalität und das Recht des Stärkeren sich gegen eine vernünftige öffentliche Ordnung durchsetzen. In vielen Ländern Afrikas ist zum Beispiel die Situation der einfachen Bevölkerung nachher nicht besser geworden.

Prävention von Krisen muss natürlich stets an erster Stelle stehen, doch wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, gilt es zunächst, die streitenden Parteien auseinander zu halten und dann, eine starke öffentliche Ordnung wieder zu installieren – anders wird zum Beispiel Syrien nicht wieder zur Ruhe kommen. In Mali ist auch die Bundeswehr an solch einer UNO-Friedensmission beteiligt: „Nicht alle Einsätze sind des Teufels“. Aber dort, wo die Routen von Menschen- und Drogenschmugglern verlaufen, wo organisierte Kriminalität über die Straßen herrscht, ist der einzelne Soldat auch ohne offiziellen Kampfauftrag schnell in einen bewaffneten Konflikt verstrickt.

Kampf nicht ausgeschlossen

Schlimmstenfalls kommt es zu einer „Afghanisierung“, einer Spirale der Gewalt, die auch die Bundeswehr zur Aufrüstung zwingt: „Die Bundeswehr baute dort erst Schulen, heute haben sie sich – ohne Kontakt zur Bevölkerung – hochbewaffnet zurückgezogen.“ Dass es unter solchen Umständen vermehrt zu seelischen Problemen der Beteiligten kommt, ist verständlich, weniger verständlich die Motivation für den einen oder anderen Einsatz der Bundeswehr innerhalb der Nato, da muss jeder einzeln und anders beurteilt werden – was jedoch für den befehlsgebundenen Soldaten vor Ort keine Rolle spielt.

„Sie kommen nicht drumherum, als Teil des Militärs Schuld auf sich zu laden“, das sah der Militärbischof ganz unverblümt, aber er und seine 110 Militärgeistlichen stehen bereit, um damit umgehen zu lernen. Das übrigens auch in der Nachsorge bei traumatisierten Soldaten. Längst hat die Psychologie erkannt, dass kirchliche Rituale – und sei es nur das Entzünden einer Kerze – tiefen Zugang in verletzte Seelen finden können, „Szenarien, die die Psychologie nicht hat“. Das Stärkste ist sicherlich das Ende einer Beichte – die auch im Protestantismus möglich ist, wenn auch freiwillig – wenn der Pfarrer sagt: „Dir ist Deine Schuld vergeben!“



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