Prof. Dr. Norbert Lammert diskutiert im Königsteiner Forum die Frage „Starker Staat mit verunsicherten Bürgern?“

Königstein (sk) – Der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, bediente sich eingangs seines Vortrages am 13.12.2018 in der Volksbank Königstein des Zitats von Richard von Weizsäcker: „Wir leben in einer Zeit tiefgreifender historischer Umbrüche. Dieser Prozess zwingt uns alle zum Umdenken“. Norbert Lammert, nicht ohne Grund als einer der großen Denker und Politiker unserer Zeit hoch geschätzt, appellierte im Bewusstsein dieser Erkenntnis an seine Zuhörer für eine Vitalisierung unserer Demokratie. Mit Blick auf die zunehmend sinkende Wahlbeteiligung der Bürger und ihre schwindende Akzeptanz unserer politischen Systeme mitsamt ihrer Repräsentanten warnte der promovierte Politikwissenschaftler ganz sachlich vor einer hausgemachten Destabilisierung unserer Demokratie.

Ursachen der Verunsicherung

„Dass wir in Umbrüchen und mit Veränderungen in den politischen Systemen leben, ist nichts Neues“, stellte Norbert Lammert klar. Ungewöhnlich sei allerdings die hohe Anzahl von Veränderungen und Neuerungen in verhältnismäßig kurzer Zeit. Das rasante Tempo technischer Errungenschaften, die unmittelbare Veränderungen in der globalen Welt nach sich ziehen, die Digitalisierung, deren komplexe Zusammenhänge sich noch nicht einmal ansatzweise erahnen lassen und das Aufkommen populistischer Gruppierungen mit dem Angebot einfacher Antworten auf die immer komplexer werdenden Fragen unserer veränderten Gesellschaft verstärkten überall auf der Welt den Eindruck bei den Menschen, dass sie selbst zwar Adressat dieser Veränderungen seien, sie diese aber in ihren Auswirkungen überhaupt nicht beeinflussen können. Genau das führe zur Verunsicherung, so der ehemalige Bundestagspräsident. Und dies habe Skepsis und demonstrative Distanz bei vielen Menschen zur Folge.

Auswirkungen auf das Zusammenleben

Die Grundsatzfragen des Zusammenlebens habe 1993 der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukujama in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ erörtert. Er vertrat die These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Demokratie unter der Bedingung der Marktwirtschaft endgültig überall als einzige Staatsform durchsetzen werde. Fortschritte in der Entwicklung dieses grundlegenden Prinzips und seiner Institutionen würde es folglich nicht mehr geben, da alle wirklich großen Fragen endgültig geklärt wären.

„Nichts ist heute ein für alle Mal geklärt“, positionierte sich Prof. Lammert eindeutig. „Wie man eine moderne Gesellschaft politisch organisiert, ist heute weitaus strittiger als noch vor 25 Jahren“.

Akzeptanz von politischen Systemen

Bei einer Untersuchung in 50 Ländern zu der Frage, wie es denn mit der Akzeptanz der jeweiligen politischen Systeme aussehe, habe man ein erschreckendes Ergebnis zur Kenntnis nehmen müssen, informierte der CDU-Politiker. „Mit unserem persönlichen Anliegen hat das nichts zu tun, was unsere verantwortlichen politischen Institutionen tun“, war das übereinstimmende Statement von 2/3 aller Befragten. Noch alarmierender war das Fazit der Untersuchung: die Zweifel an den politischen Verhältnissen seien in den Ländern am größten, wo anspruchsvolle demokratische Verhältnisse herrschten.

Im Umkehrschluss habe die Studie gezeigt, dass Länder wie Ägypten, Saudi Arabien, Türkei oder China die größte Zustimmung zu ihrer amtierenden Regierung erhielten. „Den Befund finde ich nicht witzig“, leitete Prof. Lammert seine eigenen Schlussfolgerungen daraus ein: „Erstens gibt es fast überall Zweifel an der Tragfähigkeit der Demokratie und zweitens am Urteilsvermögen des Publikums“.

Plebiszitär gegen repräsentativ

Unsere Gesellschaft gelangt zu einer für alle verbindlichen, gemeinsamen Entscheidungsbildung durch die Wahl ihrer Repräsentanten. Unser „Standardmodell“ der repräsentativen Demokratie unterliege allerdings auch Veränderungen, gab Norbert Lammert zu bedenken. Eine Alternative dazu in der plebiszitären Demokratie zu suchen mit ihren erweiterten Mitentscheidungsbefugnissen der Bürger durch Volksabstimmungen, sei allerdings sehr riskant. „Denn einmal getroffene strukturelle Entscheidungen sind kaum noch korrigierbar“, verwies der Referent auf die Brexit-Entscheidung wie auch auf die durch Volksentscheid herbeigeführte sorgfältige Amputation der Gewaltenteilung in der präsidialen Demokratie der Türkei.

Partizipation und Bürgerbeteiligung

Darüber hinaus zeige die Statistik, dass seit 1996 etwa 330 plebiszitäre Verfahren anhängig waren, wovon lediglich 29 zu einem Ergebnis kamen. Der Rest habe nicht einmal die erforderliche Mindeststimmenzahl für ein Volksbegehren gehabt. Dies mache zwar deutlich, dass ein Großteil der Bürger gerne „mitentscheiden“ wolle, in der Realität die Partizipationsbereitschaft aber geringer ausfalle, es sei denn, man ist selbst von einer Entscheidung betroffen. Aber die persönliche Betroffenheit als Maßstab für Kompetenz zu nehmen, um in einem für unser Demokratieverständnis notwendigen Abwägungsprozess die richtigen allgemeinverbindlichen Entscheidungen zu treffen, davon distanzierte sich der ehemalige Bundestagspräsident.

Demokratie ist Lösung, nicht Problem

Prof. Dr. Lammert veranschaulichte anhand einer aktuellen Studie aus dem Jahr 2018 zu der Frage „How democracies die?“ (Wie Demokratien sterben?), dass Demokratien heute nicht mehr durch ein gewaltsames Ende in Form von Kriegen, Revolution oder Putsch untergehen, sondern eher dahinsiechen durch Wahlentscheidungen, Einschränkungen der Pressefreiheit, Knechtung der Unabhängigkeit der Gerichte oder Beschneidung der Mindestkriterien der Demokratie.

„Für Deutschland trifft mein Lieblingszitat von Barack Obama zu“, nämlich: „Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn Menschen sie für selbstverständlich erachten“. Dies sei die Achillesferse der Demokratie, die nach Auffassung des CDU-Politikers kein sich selbst erhaltenes Prinzip sei. „Demokratie steht und fällt mit dem bürgerschaftlichen Engagement“, hielt er fest. Die Entwicklung der letzten 25 Jahre habe ihn zu der wohl weitreichendsten Erkenntnis seines politischen Wirkens geführt, nämlich dass das wahrscheinlich größte Risiko der Demokratie darin bestehe, dass sich die Bürger engagieren DÜRFEN, es aber nicht MÜSSEN.

Wählen gehen!

Was könne man denn nun tun gegen diese allgemein spürbare Verunsicherung, wollte Stadtverordnetenvorsteher Alexander Frh. von Bethmann in der anschließenden Diskussion von dem Referenten erfahren. „Legen Sie Ihre Verunsicherung auf Wiedervorlage und beteiligen Sie sich an den Wahlen zum europäischen Parlament“, empfahl der Bochumer Christdemokrat und ließ dabei kurzzeitig seinen viel zitierten Schalk aufblitzen.

Die Gäste des Königsteiner Forums bekamen einen hervorragenden Eindruck von Prof. Lammerts rhetorischer Brillanz. Mit Kompetenz und feinem Sinn für Ironie sowie einer guten Mischung aus Humor und Gelassenheit überzeugte der 70-jährige CDU-Politiker sein Publikum. Und sicher werden seine Rede und vor allem sein Appell an alle Demokraten, ihr Königsrecht der Wahl ernst zu nehmen, einen Nachhall haben.

„Autoritäre Regimes brauchen kein bürgerschaftliches Engagement. Die Demokratie braucht es“, appellierte der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, an die Gäste des Königsteiner Forums, sich an der Wahl zum europäischen Parlament zu beteiligen.
Foto: Krüger



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