Ohne Kaiser leben lernen im Hilfskreis Königstein

Königstein (hhf) – „Die erste Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der große Krieg, aus dem sich alle anderen Katastrophen ergaben“, so schätzte Fritz Stern den ersten Weltkrieg ein. Simone Hesse, Leiterin der Stadtbibliothek, nutzte das Zitat, um einen neuen Vortrag von Beate Großmann-Hofmann in ihrem Büchertempel einzuleiten. Regelmäßig schaut die Stadtarchivarin nach, was vor 100 Jahren im Städtchen geschehen ist, daher stand diesmal der erste Weltkrieg mit seinem Ende auf der Tagesordnung. Ein so umfangreiches Thema, dass es auf die letzten zwei Monate des Jahres reduziert wurde, mit einem Exkurs in den Januar. Weiterhin wurden die Geschehnisse in Falkenstein ausgespart, in Absprache mit Hermann Groß, der sich darum in einem eigenen Vortrag kümmern wird.

In dem eigentlich recht beschaulichen Kurstädtchen Königstein hatte man den fernen Krieg bislang so gut es ging aus dem Alltag verbannt, doch waren natürlich die Auswirkungen überall zu spüren. Nicht nur, dass es Gefallene zu beklagen gab, die gesamte Geschäftswelt war durch eingezogene Männer stark beeinträchtigt und es fehlte an nötigen Dingen wie Lebensmittel. Mit der großen Politik schien man sich aber offenbar nicht im Übermaß zu beschäftigen, zumindest nicht in einem Maß, das Spuren im Stadtarchiv hinterlassen hätte.

Aushänge am Verlagshaus

Im November änderte sich dann einiges. „Nie war vor unserem Haus so viel los“, erinnerte sich Zeitungsverleger Kleinböhl, nachdem er die Bedingungen des Waffenstillstands von Compiègne (11. November) ausgehängt hatte. Die Redaktion fragte sich freilich, ob der Martinstag da gute Gaben gebracht habe – immerhin sah man die Chance, aus den Trümmern Neues zu errichten.

In der Kommunalpolitik bemühte man sich derweil, unaufgeregt die Ordnung aufrecht zu halten. Der Magistrat befand, dass es noch zu früh sei, über die Gestaltung eines Ehrenfriedhofes zu beraten und freute sich, dass die Statue von Herzog Adolph knapp der Altmetallsammlung entgangen war, während die Stadtverordnetenversammlung mehr Geld für Wach- und Sicherheitsposten genehmigte.

Am 13. November schließlich gründete sich – wie in anderen Kommunen auch - im Reservelazarett Taunusblick (an seiner Stelle steht heute das Kurbad) ein Arbeiter- und Soldatenrat, dem Bürgermeister Anton Jacobs seine Unterstützung zusagte. Bekannte Namen wie Franz Dorn, Wilhelm Hasselbach, Martin Stahl, Konrad Villmer oder Christoph Katzenbach finden sich in dem Rat, zu dessen Aufgaben es unter anderem gehörte, Ruhe und Ordnung aufrechtzuhalten – daher ermahnten sie die Bevölkerung, den Ernst der Stunde zu erkennen und die Kinder von den Straßen fernzuhalten.

Dem Geist der Zeit entsprechend wurde auch ohne Revolutionsbestrebungen eine rote Fahne am Rathaus aufgezogen, was den evangelischen Hofprediger Karl Bender in Rage versetzte. „Ein großer roter Lappen“ schäumte er und freute sich um so mehr, als der Rat schon am 8. Dezember seine Tätigkeit wieder einstellte.

Soldaten kommen

Die Straßen waren allerdings schon unsicher, denn gerade die Fernverbindung Frankfurt-Köln wurde – wie so oft schon in früheren Zeiten – wieder von Soldaten bevölkert, zunächst deutschen Einheiten auf dem Rückmarsch von der Front. „So sieht kein geschlagenes Heer aus“ befanden die Einwohner und schmückten ihre Häuser mit Fahnen. Nicht ganz so freiwillig lieferten sie Lebensmittel und andere Versorgungsgüter in der Bierhalle des Hotel Pfaff ab, mit denen die Soldaten am Hotel Georg (der heutigen Stadtbibliothek) verpflegt wurden. Alkohol gehörte nur in geringen Mengen dazu, denn er „untergräbt die Disziplin“. Apropos – der Schulunterricht fiel in Oktober und November aus, die Kinder sollten Bucheckern sammeln.

Ab Dezember beschäftigt man sich auch wieder mehr mit Politik, schließlich stehen im Januar Wahlen an. In Königstein engagiert sich in dieser Zeit mit Dr. Curt Abel-Musgrave ein interessanter Mensch in der Politik, der unter anderem als Journalist bekannt geworden war. Später ging der mit Sherlock Holmes-Autor Arthur Conan-Doyle befreundete Mediziner und Chemiker zunächst als Erzieher nach England und später in die USA, unterhielt aber noch lange Zeit Verbindungen nach Königstein. In bewegten Diskussionen widmeten sich die Männer der Frage, wer wohl zum Regieren geeignet sei – und ob Frauen überhaupt wählen können. Das dürfen sie nämlich diesmal zum ersten Mal, weshalb die vereinigten Frauenvereine Fortbildungsveranstaltungen organisierten.

Besatzer kommen

Neben Wahlanzeigen standen nun immer öfter auch Mitteilungen, dass heimkehrende Handwerker und Geschäftsleute ihre Firmen wieder eröffnen, doch nach den deutschen Soldaten kommen nun französische. „Schwere Zeiten stehen uns bevor“, ahnt der Bürgermeister, denn Königstein ist mit Kronberg gerade noch dem Brückenkopf Mainz zugeschlagen worden. Wer nach Schneidhain gehen will, braucht eine Erlaubnis, die Uhren werden um eine Stunde auf Pariser Zeit zurückgestellt, aber die Kleinbahn fährt nach deutscher Zeit ... plötzlich war alles anders und 1.800 Besatzungssoldaten mit 250 Pferden wachten darüber, 700 davon wurden in Falkenstein einquartiert. Besonderes Aufsehen erregten nordafrikanische Einheiten, die das Hotel „Taunusblick“ zum „Quartier maroccaine“ umgestalteten, andere Truppen waren im Hotel Pfaff untergebracht, das auf dem heutigen Parkplatz Stadtmitte stand. Die Kommandantur wurde in der Frankfurter Straße eingerichtet und schließlich wurde der „Hilfskreis Königstein“ geschaffen. Bürgermeister Anton Jacobs stieg zum Landrat auf und amtierte im linken Flügel des heutigen Rathauses.

Die deutschen Polizisten blieben in dieser Zeit im Dienst, sogar mit Waffe, sie trugen lediglich weiße Armbinden und hatten französische Offiziere zu grüßen. Die restliche Bevölkerung hatte ihre Waffen abzugeben, was auch mit Hausdurchsuchungen kontrolliert wurde, Taubenzüchter mussten sich anmelden und für den nächtlichen Ausgang brauchte man Erlaubnisscheine. Die konnten allerdings bei wichtigen Anlässen auch nachträglich ausgestellt werden, wenn zum Beispiel Pfarrer oder Hebamme eilig gebraucht wurden.

Schließlich endete das Jahr in einer unheimlich stillen Sylvesternacht, die Behörden hatten nachhaltig vor „dem üblichen Unfug“ und Knallerei gewarnt, die zu schweren Missverständnissen mit den neuen Herren hätten führen können.

„Ihre Vorträge sind seit über zehn Jahren höchst anschaulich“, diesem Urteil von Simone Hesse (Leiterin der Stadtbibliothek) über Stadtarchivarin Beate Großmann-Hofmann ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, außer vielleicht einem Bild.
Foto: Friedel



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