Hermann Groß hadert in der Stadtbibliothek mit Grenzen

Die friedliche Abendstimmung täuscht: Dort, wo heute der Streit um die Parkplätze am Opelzoo tobt, befinden sich die Helbigshainer Wiesen. An der Grenze zwischen den Gemarkungen Kronberg, Falkenstein und Königstein gelegen, entzündete sich hier so mancher historische Konflikt. Noch heute sind die Lokalhistoriker uneins darüber, wo der Hof Helbigshain im Mittelalter genau gelegen haben soll. Foto: Friedel

Königstein (hhf) – Dass ein Grenzfall oft auch zu einem Vorfall werden kann, der bis zu einem Reinfall führt und bei einzelnen Beteiligten sogar einen Anfall auslösen kann, ist Heimatforscher Hermann Groß sehr wohl bekannt. Sein Vortrag über „Grenz(zwischen)fälle in der Umgebung“ wurde von Leitung und Zuhörern in der Stadtbibliothek dagegen eindeutig als ein Glücksfall gewertet, der dem Referenten, der den richtigen Tonfall getroffen hatte, nachher reichlich Beifall einbrachte.

Bei dieser Sammlung von Fällen wollte es Hermann Groß freilich nicht bewenden lassen und eröffnete seine Zusammenstellung größerer und kleinerer Gemarkungsfehden mit dem Bild eines kapitalen Hirsches, um der Option vorzubeugen, gleich zu Anfang einen Bock zu schießen.

Tatsächlich aber beschäftigte der „unterschlagene Hirsch“ schließlich sogar das Reichskammergericht in Speyer. Der war nämlich unvorsichtigerweise in eine Jagd geraten, zu der Hildegard von Staffel eingeladen hatte. Gemeinsam mit den Kronbergern teilten sich die Staffels damals das Wohnrecht auf der Burg Falkenstein, ein Lehen, das von Nassau vergeben worden war. Offenbar hatte man wohl vergessen, die Kronberger zu dieser Jagdgesellschaft einzuladen, denn als der waidwunde Hirsch sich mit letzter Kraft über die Grenze auf Kronberger Territorium schleppte und dort verstarb, machten jene ihr Besitzrecht geltend. Noch heute besagt das Jagdrecht, dass der Besitzer des Sterbeortes der Eigentümer des erlegten Wildes ist. Das Reichskammergericht stellte jedoch fest, dass die Kronberger überreagiert hatten und ordnete an, dass sie die beschlagnahmten Wagen und Knechte der Kontrahenten wieder herausgeben mussten.

Abgesehen davon, dass in früheren Zeiten wegen der vielen Ganerben auf der Burg Falkenstein eine regelrechte Hausordnung das Zusammenleben der streitbaren Adligen regeln musste, blieben die Familien von Staffel und Kronberg lange nachbarschaftlich verfeindet. Dazu kommt, dass Falkenstein lange eine nassauische Enklave im Gebiet anderer Kleinstaaten war. Je nach wechselnden Herrschaftsverhältnissen liefen die Köpfe besonders im Bereich der Helbigshainer Wiesen am heutigen Opel-Zoo heiß, wo die Gebiete von Königstein, Falkenstein und Kronberg aufeinandertrafen, was ihnen auch den Ruf eines „Schikanierzwickels“ einbrachte. Der Name stammt wohl von einem Hofgut, das an der Reichsstraße nach Köln die Funktion einer Raststation innehatte, die Bezeichnung „Freigericht“ lässt Reichsunmittelbarkeit vermuten. Unklar ist dabei, ob die „Helbigshainer Wiesen“ auch der Standort jenes Hofgutes waren oder nur als Grünfläche zu einem Weiler gehörten, der im Bereich der heutigen Limburger Straße gelegen haben könnte.

In jedem Fall eignete sich das Gelände nach Verschwinden des mittelalterlichen Hofes hervorragend für Grenzstreitigkeiten, die erst recht zunahmen, als nach der Reformation „stockkatholische“ Falkensteiner Burgherren auf protestantische Stolberger in Königstein trafen oder reformierte Kronberger sich mit den Fürstbischöfen von Kurmainz anlegten. Hasenjagden und Holzdiebstähle beschäftigten wieder einmal Reichskammergerichte, wobei sich vor allem die Königsteiner regelmäßig „e blutich Naas“ geholt haben. Einmal nahmen sie den Kronbergern sogar die Leiche eines erfrorenen Weißbinders aus Oberursel weg, um ihre Zuständigkeit zu unterstreichen.

In die Querelen um Weiderechte mischten sich schließlich auch noch die Hirten und Schäfer aus Mammolshain ein, die hier alte Rechte besaßen, ganz im Gegenteil zu den Königsteiner Sauhirten und Schäfern, die unter anderem Abmahnungen erhielten, weil ihre Herden ganze Kartoffeläcker der Falkensteiner verwüsteten, wie der Feldschütz in seinen erhaltenen Aufzeichnungen notiert hatte.

Der bemerkte aber auch fremde Angeln im Mühlteich am anderen Ende der Flur, was zu einer Beschwerde der Nassauer über den Kurmainzer Amtmann von Königstein führte, der dort 1776 im Trüben gefischt hatte.

Ganz im Gegensatz zu aktuell im Stadtparlament diskutierten friedlichen Gemarkungsveränderungen mit der Gemeinde Schmitten führte der Falkensteiner Waldzipfel, der bis fast auf den Feldberg reicht, noch nach 1950 zu Hadereien mit Oberreifenberg, die sogar zu einem Bericht im „Spiegel“ führten: Falkenstein wollte von den Zuschauergebühren für das von Autos und Motorrädern bestrittene „Feldbergrennen“, die auch Vergnügungssteuer enthielten, seinen Wegezoll einfordern. Dabei hatten die „Himbeern“ allerdings ebenso das Nachsehen wie bei dem Versuch, um 1970 einen Anteil der Gewerbesteuer des „Sonnenhofs“ (heute „Villa Rothschild“) zu erhalten, dessen Gelände die Gemarkungsgrenze überschreitet: „Auf Ihrem Teil liegt nur der Personalbau, und der verursacht Kosten.“ Und auch 1910 mussten die Falkensteiner fünf Mark Lustbarkeitssteuer an Königstein zurückgeben: Deren Kurkapelle hatte nämlich auf Falkensteiner Territorium gespielt. Für die mindere Qualität („bestenfalls Tingeltangel“) zog man die Steuer ein, bis das Preußische Amtsgericht nach einer Anhörung der Kapelle im Gerichtshof entschied: „Die Darbietungen der Kapelle sind von künstlerischer Natur und unterliegen damit nicht der Lustbarkeitssteuer.“

Es erklärt sich von selbst, dass in jenen Zeiten vor 1972, als Gebietsreform und Eingemeindung so manche Provinzposse abrupt beendeten, durchaus Interesse daran bestand, den einen oder anderen Grenzstein auszugraben oder zu versetzen. Damit solches nicht unbemerkt geschehen konnte, organisierten die Gemeinden regelmäßige Grenzgänge, bei denen das Allgemeinwissen über deren Verlauf an die jüngere Generation weitergegeben wurde – mitunter wurde ihnen ein wichtiger Punkt „eingebläut“, indem man sie statt übers Knie über einen Markstein legte.

Darüber hinaus war das Versetzen von Grenzmarkierungen mit Herumgeistern nach dem Tode bewehrt. Einem solchen Gespenst begegnete der Sage nach einst ein betrunkener Reifenberger auf dem Heimweg in den Helbigshainer Wiesen. „Wo soll ich ihn nur hintun?“, seufzte der Geist, der seinen Grenzstein auf dem Buckel schleppt, verzweifelt. „Ei, du Dabbes, dadehin, wo du ihn hergeholt hast!“, entgegnete der genervte Reifenberger und erlöste so vermutlich den Wiedergänger. Zumindest spukt es seit dieser Zeit nachweislich nicht mehr auf den Wiesen am Opel-Zoo.



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