Deutschland als Anker zum Wiederaufbau Europas: Ein „Wirtschaftswunder“ gab es nicht

„Ich bin 71 und da ist noch Luft drin...“ Professor Dr. Werner Abelshauser sah Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt, zerstörte aber den Mythos vom Wirtschaftswunder. Foto: Friedel

Königstein (hhf) – „Wir verfolgen Thesen“, erinnerte Moderator Professor Dr. Diether Döring die Zuhörer im Volksbank-Hörsaal, daher kann ein Vortrag des Königsteiner Forums schon einmal einen provokanten Titel haben. Nach einem solchen sah „Deutsche Identitäten. Die Bundesrepublik und ihr Gesellschaftskonsens“ zwar nicht aus, doch war Professor Dr. Werner Abelshauser nach eigener Aussage angetreten, um „den Mythos vom Wirtschaftswunder zu zerstören.“ Das trifft besonders hart, denn man kommt nach Ansicht beider Universitätslehrer an der heutigen deutschen Identität nicht vorbei, ohne das wirtschaftliche Geschehen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einzubeziehen.

Freilich stellt sich dazu auch die Frage, wie weit jene Entwicklungen die EU betreffen, doch „mit der EU-Identität ist es noch nicht so weit her“, deshalb beschränkte sich der Referent auf die BRD. Nach einem Studium der Volkswirtschaft in Mannheim wechselte Werner Abelshauser an die Ruhr-Universität Bochum, wo er 1973 promovierte, 1980 habilitierte und anschließend den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bekleidete. In zahlreichen internationalen Gastprofessuren beschäftigte er sich zunehmend auch mit Europa und wurde Mitherausgeber mehrerer fachwissenschaftlicher Standardschriften. Seit 2010 arbeitet er als Forschungsprofessor für Historische Sozialwissenschaft an der Universität Bielefeld.

Wirtschaftswunder ist nur Mythos

Schon bei der Suche nach einer „Stunde Null“ tut sich der Wirtschaftshistoriker schwer, erklärt aber auch, weshalb er das Wirtschaftswunder anzweifelt: „Es war eine Rückkehr zum alten Produktionsmodell, Rekonstruktionswachstum“, aber eben nichts Neues. 1945 bestand noch immer ein großer Teil moderner Produktionsanlagen, da sich der Bombenkrieg seit 1943 zunehmend auf Wohngebiete verlagert hatte – ein Anlagevermögen, das keinesfalls als marode zu bezeichnen ist. Die für das deutsche Produktionsmodell typischen Facharbeiter waren zwar durch den Krieg zunächst dezimiert, doch gelangten mit den Vertriebenen wieder reichlich qualifizierte Kräfte nach Westdeutschland.

Schnell merkte die US-Regierung, dass ein Wiederaufbau an Ort und Stelle für ganz Europa sinnvoller ist als Demontage und Produktionsverlagerung – Deutschland sollte „zum Anker des Wiederaufbaus Westeuropas“ werden. Damit war der „Morgenthau-Plan“ schnell vom Tisch und ab 1949 griff der „Marshall-Plan“, doch kam er zu spät und war von der Zusammenstellung seiner Lieferungen zu irrelevant, um als Grundlage eines Wirtschaftswunders gelten zu können: „Der Marshall-Plan ist kein Entwicklungsplan, sondern eine Anstoßfinanzierung für die hoch entwickelte Wirtschaft, um auf den alten Weg zu kommen.“ Die Währungsreform war in diesem Zusammenhang zwar eine dringende Notwendigkeit, hat aber von selbst nichts zum Wirtschaftswunder beigetragen.

Schließlich fand auch die soziale Marktwirtschaft keine Gnade vor den Augen des Historikers: Die meisten Märkte waren unter Erhardt reguliert, es gab kein Kartellrecht, also gab es keinen Marktwettbewerb (sondern eine „Herrschaft der Verbände“) und auch keinen Sozialstaat. Den versuchte Adenauer immerhin als dynamisierte Variante „a la Bismarck“ zu installieren, musste aber gegen die Idee eines privaten Sozialmarktes ankämpfen.

Deutschland ist kein Industrieland

Ein ganz tief eingebranntes Kapitel sind auch die Wellen von „Gastarbeitern“, die in den 50er- und 60er-Jahren bewusst als unqualifizierte Arbeitskräfte angeworben wurden. Auf lange Sicht haben sie allerdings nach Professor Abelshauser eher zur Massenarbeitslosigkeit beigetragen als zum Wirtschaftswunder. Schuld daran ist eine Fehlprognose, die mit der Industrialisierung zusammenhängt. Nach den Erfolgen der Dampfmaschine in England wollte Deutschland dieses nämlich einholen, überholte stattdessen aber und war kurzzeitig tatsächlich eine typische Industrienation. Dabei ging es aber einen anderen Weg als die USA, die stark auf Automatisierung und Fließbandarbeit setzten, wozu man Arbeiter zum Anlernen braucht. In Deutschland hingegen etablierte sich zum Beispiel in der Großchemie oder im Maschinenbau eine Symbiose von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Forschung hielt frisch aus der Universität schnell Einzug in die Produktion, die vor allem Prototypen herstellte – ein Wandel von der materiellen Wertschöpfung, die Rohstoffe veredelt, zur immateriellen. Mit den späteren Feldern der „New Economy“, Mikroelektronik und Digitalisierung, setzte sich dieser Trend auf dem Weg in die Globalisierung fort.

Deutschlands wahre Wettbewerbsfähigkeit

Die Fertigung maßgeschneiderter Produkte, zusammen mit integrierter Dienstleistung und einer starken Präsenz auf dem Weltmarkt, ist also vielleicht kein Wunder, aber doch die wahre Geschichte hinter dem wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands von 1945 bis heute. Einen gewissen Reichtum konnte man besonders als Ausstatter der Schwellenländer erwerben, die damit Förderung zur Umstellung ihrer Wirtschaft erhielten. Ein Marshallplan, wie er gerne für arme Länder wieder gefordert wird, wäre dagegen unsinnig, denn er fördert die Rückkehr zum alten Wirtschaftssystem.



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