Königstein (el) – Die Zeit des Nationalsozialismus war von Zynismus geprägt und zutiefst menschenverachtend. Nur so konnte rechtsextremes Gedankengut aufkeimen. Gerade jetzt gelte es, die Erinnerungen an diese furchtbare Zeit wachzuhalten, sagte Manfred Colloseus im katholischen Gemeindezentrum zum Auftakt der Aktionswoche, die am morgigen Freitag mit der Verleihung des Eugen-Kogon-Preises der Stadt Königstein an den Initiator der „Stolpersteine“, Gunter Demnig, ihren Höhepunkt findet. Ebenso wie der Künstler die Stolpersteine zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in vielen deutschen Städten – darunter auch Königstein – verlegt hat, ist es der Grundgedanke der Aktion „Stolpersteine“ um die Königsteinerin Petra Geis, die jüdischen Mitbürger, die grausame Schicksale ertragen mussten, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Der Leidensweg der Juden – auch jener, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Königstein gelebt haben – begann weit vor den Gräueltaten, die an ihnen begangen wurden. Es waren aufgehetzte Freunde und Nachbarn, die sich plötzlich gegen sie wandten und den Nährboden für die Verbreitung des Schreckens bereiteten. Das hatte zur Folge, dass viele Juden ihre Berufe nicht mehr ausüben konnten, weil es ihnen verboten wurde, dass Bücher verbrannt wurden und ihre Kunst als „entartet“ bezeichnet wurde. Sogar die Musik wurde als „verfemt“ eingestuft. Genau dieser, im Dritten Reich „geächteten“ Musik war die erste Veranstaltung im Rahmen der Aktionswoche in Königstein gewidmet.
Um den Königsteinern einmal bewusst zu machen, welch große Komponisten von den Nazis damals geächtet und ins Exil oder gar schlimmer gezwungen wurden, wurde ein anspruchsvolles, rundes Programm zusammengestellt, das aus der Bad Vilbeler Ausstellung „Legalisierter Raub“ stammt. Musikalisch setzten es höchst anspruchsvoll die Sopranistinnen Andrea Herget-Franke und Gabriela Helfrich um, während der Ehemann Letzterer, Herbert Helfrich, Pianist des Abends war. Der Vierte im Bunde, Sprecher Hartmuth Schröder, packte seine Zuhörer mit seinen Erzählungen, die den Schrecken der damaligen Zeit spürbar machten.
So zog einst Georg Friedrich Händel den Zorn der Nazis auf sich mit Kompositionen wie „Tochter Zion“ und indem er jüdische Motive für seine Werke verwendete. Man begann Händel zu arisieren und machte kurzerhand aus dem Oratorium „Judas Maccabäus“, in dem der Freiheitskampf der Israeliten geschildert wird, „Der Feldherr“ oder aus „Israel in Ägypten“ einen Mongolensturm. Dabei sei zu Beginn des Dritten Reichs noch nicht einmal verboten worden, Werke wie jene im Original von Händel zu spielen, klärte Schröder auf, doch die damalige deutsche Kunstszene habe sich kriecherisch verhalten und zeigte so etwas wie „vorauseilendes Gehorsam“. Mit „Seht, er kömmt“ gab es einen Ausschnitt aus diesem bekannten Freiheitsoratorium von Händel.
Der nächste große Komponist, Felix Mendelssohn Bartholdy, von Geburt an Jude, wurde nur 38 Jahre alt. In seinem melancholischen „Das Abschiedslied der Zugvögel“, das die beiden Sopranistinnen zu Gehör brachten, ist der Text von Hoffmann von Fallersleben, der die deutsche Nationalhymne gedichtet hat, vertont. Wenn man genau hinhört, sind die darin enthaltenen Texte wie eine Prophezeiung zu verstehen: „Nach der Freude kam das Leid“ oder „Haben keine Heimat mehr“.
Auch Mendelssohn-Bartholdy, ebenso wie seine Schwester Fanny, ebenfalls Komponistin und als Frau doppelt belastet, fiel der Propaganda-Maschinerie der Nazis zum Opfer. Man könne auch sagen, stellte Hartmuth Schröder fest, dass man seine Musik ermordet habe. Ausgerechnet Richard Wagner soll es gewesen sein, der mit seiner Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“ damit 1850 den Startschuss gegeben habe. Hierin spricht Wagner den Juden die Fähigkeit ab, mit ihrer Musik Gefühle zu erzeugen. Dies führte zur Missachtung der Werke von Mendelssohn Bartholdy, die bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges anhalten sollte.
„Die schwarze Variante des Menschseins ist die unterste“ – soll der antisemitische Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain einmal gesagt haben und so wurde die lebenslustige Musik von Scott Joplin mit ihren, für die damalige Zeit neuen Elementen zu „Negermusik“ erklärt. Joplin zu Ehren, dem Unrecht widerfahren war, haute Herbert Helfrich beim erfrischenden „Maple Leaf Rag“ mächtig in die Tasten seines Pianos. Für Aufreger sorgte die „wilde“ Musik von Erwin Schulhoff, der seine Stücke mit Elementen aus Jazz, Rag und Charleston spickte und für seine experimentierfreudige Musik bekannt war. Schulhoff, der das kommunistische Manifest vertont hat, ereilte ein tragisches Schicksal. Als er gerade im Begriff war, 1941 in die damalige Sowjetunion überzusiedeln und schon die Papiere in der Hand hatte, wurde er verhaftet und in ein Lager in Bayern gebracht, in dem er ein Jahr später starb. Arnold Schönberg komponierte mit seinem Opus 19, bestehend aus sechs kleinen Klavierstücken – zwei von ihnen wurden vom Pianisten des Abends vorgetragen –Fortschrittliches und Außergewöhnliches. Der Techniker ging nach Paris ins Exil, nahm dort seinen jüdischen Glauben wieder an und emigrierte in die USA. Sein Schicksal bzw. die Ablehnung der völlig neuen musikalischen Richtung, die er verkörperte, steht für Hartmuth Schröder mit dem kleinbürgerlichen Geist in Verbindung, der zu dieser Zeit vorherrschte – als wenn man etwas in dieser Musik fürchten würde.
Mut zum Lachen, auch über die Nazis, bewies Friedrich Holländer mit seiner Revue „Spuk in der Villa Stern“. Daraus interpretierte Solistin Gabriela Helfrich das herausfordernde Chanson „Die Kleptomanin“, während ihr Mann wenig später die ersten sanften Töne der unvergessenen Filmmelodie aus „Der Blaue Engel“ („Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“), einst gesungen von Marlene Dietrich, am Piano anklingen ließ. 1933 verließ Holländer Deutschland und eröffnete als Sohn einer Revue-Sängerin und eines Operettensängers ein „Tingel-Tangel-Theater“ in Hollywood. 1955, zurück in Deutschland, eröffnete er ein Kabarett. Besonders sehnsuchtsvoll und einprägsam ist sein Chanson „Wenn ich mir was wünschen dürfte“, das aus der deutschen Filmkomödie „Der Mann, der seinen Mörder sucht“ (1931) stammt. Vorgetragen von Gabriela Helfrich spiegelt es besonders tragisch die Angst vor dem Glücklichsein wider. Aus dem Theaterstück-Welthit „Dreigroschenoper“ von Kurt Weil und Berthold Brecht erweckte die Solistin dann die freche Ballade der „Seeräuber Jenny“ („Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen. Und ich mache das Bett für jeden. Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell“) zum Leben. Sowohl Brecht als auch Weil träumten im amerikanischen Exil von einer freien, künstlerischen Arbeit, während die von ihnen erschaffene Figur der Seeräuber Jenny davon träumte, ihrem Elend zu entfliehen.
Am Ende bedankten sich die Zuhörer für ein Konzert, das nicht nur durch die besondere Zusammenstellung der einzelnen Stücke beeindruckte, sondern auch durch die Zwischentöne, die ein jeder für sich daraus entnehmen konnte, um sie wiederum anderen ans Herz zu legen. Ein überaus gelungener Auftakt der Veranstaltungswoche, der durchaus mehr Zuhörer verdient gehabt hätte!